Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Harvard-Chemikers George Kistiakowsky hat sich von Neumann inzwischen zu eigen gemacht. Die rohe Rechenkraft einer Maschine, so lautet von Neumanns Rat, sei am besten geeignet, Vorgaben für eine gleichmäßig symmetrische Implosion zu liefern. Also wird ein Lochkartenrechner von IBM – einer der letzten seiner Art auf der Schwelle zur Ära der elektronischen Computer – im April 1944 auf den Hügel geschafft und mit den Schockwellendaten gefüttert. Nach drei Wochen maschinellen Rechnens rund um die Uhr liegen erste Zwischenergebnisse vor.
Im November 1943 bombardieren die Alliierten erneut die Schwerwasserfabrik im norwegischen Vemork und richten erheblichen Schaden an. Die unbeschädigten Elemente der Anlage werden zwar noch demontiert und nach Deutschland gebracht. Aber angesichts des erbitterten Krieges, der alle Ressourcen verschlingt, bleiben die Bemühungen, Versuchsanlagen zur Produktion schweren Wassers im Deutschen Reich zu bauen, im Anfangsstadium stecken. Im Februar 1944 nehmen norwegische Widerstandskämpfer eine Passagierfähre ins Visier, die sechshundert Liter schweres Wasser in 49 Fässern an Bord hat. Sie sollen nach Deutschland verfrachtet werden. Bei einem Sprengstoffanschlag auf das Schiff versinken die Fässer. Dabei kommen auch 14 Zivilisten ums Leben. Es hat den Anschein, als müsse Kurt Diebner im Frühjahr 1944 trotz seines zuletzt äußerst erfolgreichen Versuchs mit Uranwürfeln seinen Traum vom «selbsterregten Reaktor» mangels schweren Wassers aufgeben.
Inzwischen kann Werner Heisenberg die Diebner’sche Reaktorgeometrie nicht mehr ignorieren. Seine eigenen Versuche mit Uranmetallplatten in Berlin haben nicht einmal mehr die Werte des Leipziger Experiments von 1942 erreicht. Heisenberg überprüft die Zahlen aus Gottow, kann sich aber in seiner Stellungnahme zu keinem anerkennenden Wort für Diebner durchringen [Kar:112]. Wegen der massiven Luftangriffe auf Berlin wird Heisenbergs Institut nach Hechingen in der Nähe von Tübingen ausgelagert. Seit April 1944 pendelt er zwischen Berlin und der württembergischen Provinz.
Der temperamentvolle George Kistiakowsky gehört zu den alten Herren auf dem Hochplateau. 1900 in der Ukraine geboren, hat er 1917 nach der Russischen Revolution als Freiwilliger der Weißen Armee gegen die Bolschewisten gekämpft. Er wurde von der Roten Armee gefangen genommen und verbrachte ein Jahr in türkischen Gefängnissen, bevor er nach Deutschland fliehen konnte. So scheint er über jeden Verdacht erhaben zu sein, Sympathien für kommunistische Ideen zu hegen. Promoviert hatte er an der Universität Berlin, war in Princeton Stipendiat, ist seit 1938 Chemieprofessor in Harvard und gilt als der Sprengstoffexperte des Nationalen Forschungsgremiums für Verteidigung. Er hat seinen Teil dazu beigetragen, Präsident Roosevelt von der Machbarkeit der Atombombe zu überzeugen. Kistiakowsky ist seit Ende Januar 1944 in Los Alamos und wohnt allein in einer kleinen Hütte aus Stein, im ehemaligen Pumpenhaus des Internats. In die Jugendherberge der unverheirateten Männer mochte der Geschiedene nicht einziehen. Dieses Privileg ist ihm gewährt worden, denn schließlich hat er nicht darum gebeten, in den nuklearen Geheimbund aufgenommen zu werden. Er ist von Oppenheimer bekniet worden, Seth Neddermeyer unter die Arme zu greifen. Allerdings findet er die Arbeitsbedingungen unzumutbar. Täglich erlebt er den Nervenkrieg zwischen Neddermeyer und Parsons, die sich nicht ausstehen können.
Jim Tuck, eines der «wissenschaftlichen Gehirne», die zusammen mit Otto Frisch aus England hierher gekommen sind, hat mit dem Konzept der «Sprengstofflinsen» für neuen Schwung unter den Implosionstheoretikern gesorgt. So wie Lichtwellen sich in Glas mit einer anderen Geschwindigkeit ausbreiten als in der Luft, bewegen sich auch Schockwellen in unterschiedlichen Sprengstoffen wie Dynamit und TNT ungleich schnell fort. Und so wie optische Linsen das Licht bündeln, sollten die Schockwellen bei der richtigen Anordnung verschiedener Sprengstoffe zusammentreffen und einen gleichmäßigen Druck auf den Bombenkern ausüben.
Robert Oppenheimer schließt die Augen und lässt die seltsame Prozedur über sich ergehen. Jemand taucht eine Puderquaste in eine Schüssel voll Mehl und bleicht damit den Charakterkopf des Ersten Mannes von Los Alamos. Der hat sich darauf eingelassen, eine Leiche in dem Theaterstück «Arsen und Spitzenhäubchen» zu spielen. Es gibt Szenenapplaus,
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