Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
als die Zuschauer erkennen, wer da als toter Mann auf die Bühne getragen wird. In irgendeinem Single-Wohnheim finden fast jeden Samstagabend Parties, spontane Konzerte oder kleine Theateraufführungen statt. Am stürmischsten begrüßt werden die Leute von der Technischen Abteilung, weil sie Weizenschnaps mitbringen, den sie in ihren Labors selbst brennen, was General Groves natürlich streng verboten hat.
Oppenheimers beifallumtoster Auftritt ist ein Indiz für die Beliebtheit des Chefs. Als «Pförtnerin von Los Alamos» lernt Dorothy McKibbin in ihrem Verbindungsbüro in Santa Fé jeden Neuankömmling persönlich kennen. Sie behauptet, es gäbe auf der Mesa wohl keine einzige Frau, die nicht ein wenig in Robert Oppenheimer verknallt sei und insgeheim von seinen blauen Augen schwärme. Als seine Ehefrau Kitty im Dezember 1944 ihre Tochter Katherine in Los Alamos zur Welt bringt, stehen die Frauen vor der Säuglingsstation Schlange, um einen Blick auf das Baby werfen zu können [Rho:575]. Die Männer bewundern vor allem den Scharfsinn, mit dem der theoretische Physiker die neugewonnenen Erkenntnisse aus den Maschinenhallen der Ingenieure und aus den Labors der Chemiker, Metallurgen und Sprengstofftechniker erfasst und daraus unverzüglich Strategien für das weitere Vorgehen schmiedet. Hans Bethe betont, Oppenheimer sei in der Zeit vor Los Alamos ein äußerst zurückhaltender Mensch gewesen. Die Vorstellung, er könne sich als Leiter eines großindustriellen Unternehmens bewähren, sei ihm damals völlig abwegig erschienen. Inzwischen habe er allerdings einen erstaunlichen Persönlichkeitswandel vollzogen und sich dieser Rolle mit Bravour angepasst. Selten habe Oppenheimer es nötig, Befehle zu erteilen, staunt Eugene Wigner über dessen Fähigkeit, seine Wünsche zu vermitteln, und zwar «mit großer Leichtigkeit und Natürlichkeit, nur mit seinen Augen, seinen beiden Händen und einer halb brennenden Pfeife» [Bir:218].
Anfang Mai 1944 arbeiten in Los Alamos 1200 Menschen. Edward Teller ist zwar nominell Mitarbeiter in Hans Bethes Theoretischer Abteilung, hat nun aber offensichtlich das Interesse an der aktuellen Entwicklung der Kernspaltungsbombe endgültig verloren. Lieber möchte er in die Zukunft schauen und die Machbarkeit der phantastisch klingenden Idee ergründen, die Bombe lediglich zur Zündung einer überschaubaren Menge schweren Wasserstoffs zu benutzen. Nachdem er an zwei Implosionsberechnungen gescheitert ist, bittet er selbst um seine Ablösung, damit er sich ganz und gar auf die Superbombe konzentrieren kann. Oppenheimer ist klug genug, den Herzenswunsch Tellers zu erfüllen. Bethes Wunschkandidat für Tellers Position ist Rudolf Peierls, der Vizechef der britischen Delegation. Die beiden kennen sich seit den späten 1920er Jahren, als sie bei Arnold Sommerfeld in München studiert haben. So nehmen zwei gebürtige Deutsche sensible Positionen im Manhattan-Projekt ein. An einer weniger exponierten Stelle im Technischen Bereich arbeitet ebenfalls ein früherer deutscher Staatsbürger. Der fleißige und beliebte junge Mann ist mit den englischen Forschern im letzten Herbst hierher gekommen und beschäftigt sich mit der zu erwartenden Druckwelle der Bombenexplosion. Der Name des unauffälligen Kollegen ist Klaus Fuchs, und selbst die Schnüffler vom britischen Geheimdienst haben sein Faible für den Sowjetkommunismus nicht entdecken können.
Ein ehemaliger aktiver Kämpfer gegen die junge Sowjetmacht stellt Robert Oppenheimer im Frühsommer 1944 vor eine weitere Entscheidung in einer zwischenmenschlichen Angelegenheit. Neuankömmling George Kistiakowsky ist in die Schusslinie der Gehässigkeiten zwischen Neddermeyer und Parsons geraten. Diese von Anfang an zerrüttete Beziehung bedroht den Arbeitserfolg. Nach drei Monaten fühlt sich Kistiakowsky in dem Konflikt aufgerieben und sieht keine Basis mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Und so bittet er Oppenheimer, ihn von seinen Aufgaben zu entbinden. Der entscheidet sich anders und erklärt den Sprengstoffexperten zum Leiter der Abteilung für Implosionstechnik [Bad:50]. Mit neuer Entscheidungsbefugnis ausgestattet, will Kistiakowsky jetzt die chaotischen Detonationswellen bei den Implosionsversuchen beherrschen lernen, sie nach seinen Vorstellungen gestalten und bündeln. Dafür experimentiert er mit einer speziellen Sprengstoffmischung namens Baratol.
Als Lord Cherwell, der wissenschaftliche Berater des englischen Premierministers
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