Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Winston Churchill, zu einem Besuch in Los Alamos eintrifft, führt Kistiakowsky ihn durch seine Abteilung und erzählt ihm von den vielversprechenden Daten, die ihm die Spezialmixtur liefert. Doch der in Deutschland als Frederick Alexander Lindemann geborene Lord winkt ab. Er hält Baratol als Bestandteil des Linsensystems für ungeeignet und empfiehlt ihm das gute alte Dynamit. Kistiakowsky gibt sich höflicher, als ihm in Gegenwart des blasierten Besserwissers zumute ist, und zählt ruhig die Argumente auf, warum der Nobel-Explosivstoff für diese Aufgabe nicht in Frage komme. Ein paar Tage später bestellt ihn Oppenheimer in sein Büro. Churchill höchstpersönlich habe ein Telegramm an Präsident Franklin Roosevelt geschickt mit dem Hinweis, die Leute in Los Alamos seien auf dem Holzweg. Er möge veranlassen, dass Kistiakowsky Dynamit verwende, weil Baratol definitiv nicht funktionieren werde. Der Zurechtgewiesene schlägt seinem Chef vor, Churchill eine Fahrt in die Hölle zu spendieren. Schließlich willigt er ein, Versuche mit Dynamit zu unternehmen. Mit einem Blick auf die Personalliste stellt er ein Dynamit-Team aus seinen unfähigsten Mitarbeitern zusammen, um die Baratol-Experimente nicht zu gefährden [Bad:53].
Für die Plutoniumbombe hat die Parsons-Gruppe zwei Modelle entwickelt: das schlanke Geschützdesign, das auch für die Uranbombe vorgesehen ist, und das rundliche Implosionsdesign, selbst wenn noch ein großes Fragezeichen hinter dieser Methode steht. Als Fan von Dashiell Hammett nennt Robert Serber sie in übermütiger Stimmung Thin Man und Fat Man . Dabei denkt er offenbar an Hammetts Roman «Der dünne Mann» und an die Figur «Fatman» – der Gangsterboss in der Verfilmung des Hammett-Krimis «Der Malteser Falke». Was offenbar die Kryptologen in Los Alamos begeistert aufnehmen und als künftige Codenamen in Korrespondenz und Telefonaten ausdrücklich empfehlen. Feindliche Geheimdienste und Spione würden, so glauben die im Denken um drei Ecken geschulten Verschlüsselungsexperten, ein Täuschungsmanöver des Absenders wittern und den dünnen Mann als Franklin Roosevelt und den dicken Mann als Winston Churchill entschlüsseln.
Während in Hanford, Washington, mit Hochdruck am Atomreaktor gebaut wird, produziert ein kleiner luftgekühlter Pilotmeiler in Oak Ridge seit März 1944 die ersten Plutoniumproben im Grammbereich für Los Alamos. Dort stürzen sich Metallurgen und Chemiker auf die heiße Ware, um die größtenteils noch unbekannten Eigenschaften des Bombenstoffs zu untersuchen. Die jungen Metallurgen Ted Magel und Nick Dallas vom Met Lab in Chicago sind gerade von Robert Oppenheimer höchstpersönlich abgeworben worden, weil ihnen ein ausgezeichneter Ruf vorauseilt. Sie stoßen rechtzeitig zur 116 Mitarbeiter umfassenden Metallurgiegruppe in Los Alamos, um das erste Reaktorplutonium aus Tennessee in metallisches Plutonium umzuwandeln. Das Kunststück, ein Gramm hochreines Plutonium in Form eines Knopfes herzustellen, gelingt ihnen mit einer normalen Zentrifuge. Zum ersten Mal können Menschen jetzt mit bloßem Auge den Stoff der Begierde anschauen. In den nächsten Wochen produzieren Magel und Dallas noch sieben solcher Plutoniumknöpfe. Dabei stehen sie unter ärztlicher Aufsicht. Die Mediziner wollen herausfinden, wie viel Plutoniumstaub über die Atemwege in die Lungen gelangt und wie es sich im Körper verteilt. Bald gehören die beiden zu einem exklusiven Club, der sich UPPU nennt – You Pee Pu. Du pinkelst Plutonium. Die jungen Draufgänger verstehen ihren kontaminierten Urin als patriotische Ehrensache. Schließlich herrscht Krieg, und jeder gibt sein Bestes. Sie stellen sogar wöchentliche UPPU-Bestenlisten auf, und Ted Magel schafft es mit seinen Urinwerten einmal bis auf Platz 6 der am stärksten Pu-Belasteten unter den 26 Clubmitgliedern [Ber 2 :122 f.]. Als sich Ende September die Espen wieder goldgelb färben und die wilden roten Astern den Weg zum Schießstand säumen, können die Wissenschaftler von Los Alamos auf mehr als 2000 Experimente mit Plutonium zurückblicken.
Emilio Segrè, Enrico Fermis Mitarbeiter im Rom der Vorkriegszeit, bleibt die unangenehme Aufgabe vorbehalten, die schlechte Nachricht zu überbringen. Er bestätigt die frühen Warnungen Glenn Seaborgs, dass bei der Bestrahlung von Uran im Reaktor neben dem begehrten Plutonium-239 auch zwangsläufig die Atomsorte mit 240 Kernbausteinen erzeugt werde. Sie ist unerwünscht, weil ihre
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