Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
an der Konstruktion einer Atombombe arbeite, … den Wissenschaftler umzubringen» [Cas:599]. Heisenberg selbst weiß, dass er auf Auslandsreisen von Gestapo-Spitzeln und Spionen umzingelt ist, und hütet sich, in Zürich über etwas anderes als kosmische Strahlen zu sprechen. Auch beim Abendessen in Scherrers Haus hört der anwesende Moe Berg nichts, was ihm Anlass geben könnte, seine Pistole zu ziehen.
Als Marie Curie ein neues radioaktives Element entdeckte, nannte sie es zu Ehren ihres Geburtslandes Polonium. Um ein Zehntel eines Milligramms davon zu isolieren, musste sie eine Tonne Pechblende aus dem Erzgebirge verarbeiten. 46 Jahre später können sich die Chemiker in Los Alamos eine überraschende Eigenschaft des Poloniums nicht erklären. Das mittlerweile im luftgekühlten Versuchsreaktor von Oak Ridge gewonnene, silbrig glänzende Metall wird sorgsam auf Platinfolie aufgetragen und in Sicherheitsbehältern nach New Mexico geschickt. Selten stimmen die Lieferscheinangaben mit den Materialmengen auf den Folien überein. Schließlich finden die Forscher heraus, dass das Polonium an den Wänden der Transportbehälter entlangkriecht und erst mühsam wieder eingefangen werden muss. Das seltene Element mit der fünftausendfachen Alphastrahlung von Radium soll als Neutronenquelle für den Dicken Mann dienen und die Kettenreaktion in Gang setzen. Eingehüllt in Folien aus Beryllium ist dieser «Initiator» so groß wie eine Haselnuss und soll in der Mitte des Plutoniumkerns eingebettet werden.
Mittlerweile plagen sich Kistiakowskys Mitarbeiter mit den Problemen beim Gießen der Sprengstofflinsen. Lufteinschlüsse und Kristallisationseffekte drohen die Implosion zu verhindern. «Die Sprengstoffschmelze wurde eingegossen, und dann hockten die Leute bei den verdammten Dingern und wachten über sie, als würden Eier ausgebrütet; ständig musste die Temperatur des Kühlwassers … neu angepasst werden» [Rho:586], kommentiert Kistiakowsky. Der tägliche Umgang mit Sprengstoff bringt ihn im Winter 1944/1945 auf eine glänzende Idee, die von allen Skibegeisterten auf der Mesa bejubelt wird. Alle wollen eine Skipiste haben. Der nahe gelegene Hang ist jedoch ungünstig mit Nadelgehölz verstellt. Kein Problem für Sprengmeister Kistiakowsky und seine Spezialmethode: «Wenn man dem Baum eine halbe Halskette [aus Plastiksprengstoff] anlegt, knickt er an dieser Stelle ab, als hätte man eine Kettensäge benutzt. Nur, dass es viel schneller geht. Na ja, ein bisschen lauter ist es schon» [Bad:61]. Irgendjemand lässt noch die Materialien für einen primitiven Skilift «mitgehen», und schon ist auch Oppenheimers Gast Nicholas Baker – mit 59 Jahren der Methusalem in der Stadt – glücklich, den jungen, dynamischen Schussfahrern vorzuführen, wie sportliches Wedeln am Hang aussieht, wenn man es beherrscht.
Niemand in Los Alamos hat je zuvor diesen Namen gehört, doch wer den stämmigen Mann mit dem massiven Schädel und den Torwartpranken bei seiner Ankunft auf dem Plateau sieht, erkennt ihn sofort und begrüßt ihn respektvoll oder stürzt – wie Otto Frisch – mit einem wilden Freudenschrei auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Nicholas Baker ist der Deckname für Niels Bohr, der nach seiner abenteuerlichen Flucht aus Dänemark die Mächtigen der Welt von der Notwendigkeit überzeugen will, das Wissen über die Kernspaltung mit den Regierungen aller Nationen zu teilen. Bohr dringt auf ein internationales Abkommen über Rüstungskontrolle, um ein katastrophales atomares Wettrüsten nach dem Krieg zu verhindern. Schon jetzt müssten die Grundlagen für eine Atompolitik der Nachkriegszeit geschaffen werden. Bei jeder Reise stehen neue Leibwächter für Bohr und seinen Sohn Aage bereit. Und jedes Mal amüsieren sie sich köstlich über die Humorlosigkeit, mit der die neuen Aufpasser eine Empfangsbestätigung für ihre Schützlinge unterschreiben [Moo:304].
Bohrs ungewöhnliche Idee, die Vernichtungskraft der Atomwaffe ließe sich womöglich als Abschreckung nutzen, um einen dauerhaften Frieden in der Welt zu sichern, wirkt auf die Nachdenklichen unter den jungen Wissenschaftlern in Los Alamos befreiend: die ersehnte Lösung eines schweren Gewissenkonflikts, der viele Mitarbeiter quält. Victor Weisskopf, Schüler von Born und Heisenberg, sagt über Bohrs heilsames Wirken auf der Mesa: «Jede große und tiefe Schwierigkeit trägt ihre eigene Lösung in sich selbst, und daher musste die Belohnung umso größer sein, je
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