Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Erich Bagge, Karl Wirtz, Horst Korsching und Otto Hahn in dem 350 Jahre alten Landsitz Farm Hall in der Nähe von Cambridge interniert. In einem rasanten Coup der Alsos-Offiziere sind sie gerade noch rechtzeitig aus ihren Dörfern am Rand der Schwäbischen Alb höflich entführt worden, bevor sie den französischen Besatzungstruppen in die Hände fallen konnten. Die Atomforscher werden von den Engländern gut behandelt, weil sie ihr Ehrenwort gegeben haben, keine Fluchtversuche zu unternehmen. Hier, im Versteck von Farm Hall, ist ihr Wissen auch vor den Sowjets sicher. Das von Churchill und Roosevelt vereinbarte angloamerikanische Monopol auf die Atombombe soll unbedingt gewahrt bleiben.
Kurt Diebner vermutet versteckte Mikrophone im Haus, was Heisenberg lachend als «Gestapomethode» einstuft, zu der den Engländern die «Gerissenheit» fehle [Hom:100]. Der Tag der fürstlich Kasernierten beginnt um 9 Uhr mit porridge und bacon . Danach treiben sie auf dem Rasen hinter dem Haus ein wenig Sport mit dem Rugbyball: «Einer fängt und wirft den anderen ab. Dann fangen beide, bis keiner mehr übrig bleibt» [Bag:55]. Mit Bridge, Skat, Halma und Gesprächen vertreiben sie sich die Abendstunden.
Selbstverständlich sind alle Zimmer verwanzt. Aus einem abgehörten Gespräch zwischen Hahn und Bagge am 9. Juli geht hervor, dass sich die Deutschen noch keinen Begriff von den Eigenschaften des Elements 94 machen können, das in Amerika nur «49» genannt werden darf. Otto Hahn besteht darauf, dass beim Zerfall des Elements 93 mit der Halbwertszeit von 32 Stunden viel zu wenig 94er-Material entstehe, um irgendetwas damit anfangen zu können [Hom:110]. Das ist der internationale Stand des Wissens vom Sommer 1940, kurz bevor Glenn Seaborg sein ingeniöses Verfahren zur Trennung von Neptunium und Plutonium entwickelte.
Paul Harteck hat beschlossen, dass das Leben weitergeht. Für den Abend des 10. Juli kündigt er einen Vortrag an: «Die Paarbildung beim Stoß von Lichtquanten und Elektronen» [Bag:55]. Auch bei dieser gediegenen Abendunterhaltung in Gefangenschaft werden sich die deutschen Akademiker gegenseitig noch mit «Herr Professor» anreden.
Zur gleichen Zeit geht es in Los Alamos deutlich ungezwungener zu. Hier nennen sich Nobelpreisträger und Armeeschlosser beim Vornamen. Wenige Tage vor dem hot run auf dem Trinity-Gelände laufen sogenannte dry runs und Generalproben in den verschiedenen Abteilungen an. Was der deutsche Entdecker der Kernspaltung eine Woche vor der Zündung als unwägbare und nicht verarbeitungsfähige Menge des Elements 94 bezeichnet, können die Metallurgen, Physiker und Chemiker auf der Mesa als zwei Halbkugeln aus metallischem Plutonium bestaunen. Zusammen sind sie so groß wie eine Apfelsine und wiegen etwa fünf Kilogramm. Es ist das Herz des Dicken Mannes. 120 000 Arbeiter in Hanford, Oak Ridge, Los Alamos und in rund hundert Zulieferbetrieben haben eine Menge des künstlichen Elements 94 erbrütet, deren Anblick wahrscheinlich einen Zukunftsschock bei den deutschen Experten in Farm Hall auslösen würde. Dafür hat General Groves bisher zwei Milliarden Dollar ausgegeben. Das Manhattan-Projekt ist jetzt so groß wie die Automobilindustrie der USA. Otto Frisch hat auch für diese silbern glänzende Orange den inzwischen legendären Lady-Godiva-Test durchgeführt. Diese Anordnung hat aber noch keine kritische Masse. Sie wird erst beim Implosionsprozess erreicht werden, wenn sich das Plutonium enorm verdichtet.
Montag, 9. Juli: Hauptmann Schaffer gibt Gas. Sein Lastwagen mit der brisanten Ladung passiert die Wachposten am Zaun von Los Alamos und wirbelt viel Staub auf. Und genau so lautet auch sein Befehl. Der unerschrockene Soldat soll George Kistiakowskys Behauptung belegen, seine hochexplosiven Implosionslinsen ließen sich gefahrlos auch über holprige Feldwege und Wüstenpfade schaukeln. Acht Stunden lang soll Schaffer nun diese selbstbewusste These verifizieren. Auf der Ladefläche des Lastwagens ist ein Behälter festgeschraubt und gesichert. Darin liegen vier scharfe Sprengstofflinsen zwischen Attrappen. Ihre Anordnung stimmt millimetergenau mit dem Trinity-Modell überein. Nach drei Stunden rasanter Fahrt öffnet Schaffer erstmals den Deckel des Behälters und findet die vier Originallinsen in bester Verfassung vor [Bai 3 :39].
Zwei Tage vor dem geplanten Transport der Bombe zum Testgelände wird der Druck auf Kistiakowsky und sein Team unerträglich. Inzwischen ist die
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