Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
wie die Quantenphysik. Auch Werner Heisenberg wird der Abend neben dem Sohn des Botschafters gut gefallen haben. Er wird an seine Jungs von den Neupfadfindern erinnert worden sein. Als geborener Anführer und idealer großer Bruder wird er die altklugen Thesen des Diplomatensohns jugendgerecht pariert haben. Dass diesem schönsten Tag seines Lebens bald schon ein weit bedeutsameres Erlebnis mit Werner Heisenberg folgen sollte, hätte der junge Weizsäcker wohl kaum erwartet. Kurze Zeit nach dieser ersten Begegnung – die Diplomatenfamilie ist gerade aus Kopenhagen nach Berlin zurückgekehrt – trifft eine Postkarte von Heisenberg ein. Sie ist nicht an die Eltern, sondern allein an Carl Friedrich gerichtet. Heisenberg müsse auf der Bahnreise von Kopenhagen nach München in Berlin umsteigen. Ob er nicht Lust hätte, ihn am Stettiner Bahnhof abzuholen und ihn anschließend auf der Taxifahrt zum Anhalter Bahnhof zu begleiten [Her 1 :94]. So könnten sie das unterbrochene Kopenhagener Gespräch fortsetzen, zumal er ihm etwas wirklich Brisantes zu erzählen habe.
Seit einigen Wochen bereits liegt Heisenberg in einem heftigen Streit mit Bohr über die genaue Formulierung einer neuen Art von Wahrscheinlichkeitstheorie. Während er selbst eine radikal neue Sprache anstrebt, besteht Bohr weiterhin darauf, klassische Physik und Quantenmechanik miteinander zu versöhnen. Inzwischen aber ist Heisenberg kühl entschlossen, seine Entdeckung zu publizieren, selbst wenn er dabei einen Bruch mit Bohr riskiert.
Dem Beobachter der Quantendimension, belehrt Heisenberg jetzt den jungen Weizsäcker, ist es prinzipiell unmöglich, den Ort eines Teilchens und dessen Geschwindigkeit gleichzeitig präzise zu messen. Je beharrlicher er sich auf die Lokalisierung eines Elektrons konzentriert, umso weniger genau lässt sich dessen Geschwindigkeit ermitteln. Für den umgekehrten Vorgang gilt dasselbe. Diese prinzipiell auftretende Ungenauigkeit beim Messen zweier Größen wie Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons hat nichts mit einem handwerklichen Unvermögen der Physiker oder mit unzulänglichen Messgeräten zu tun. Sie ist eine von der Natur gesetzte Grenze, die der Beobachter atomarer Ereignisse nicht überwinden kann.
Um überhaupt Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens messen zu können, muss man einen Lichtstrahl darauf richten. Die abgestrahlte Lichtenergie tritt allerdings in eine unausweichliche Wechselwirkung mit dem Teilchen und schubst es sozusagen beiseite. So spürt das Licht zwar genau den Ort des Elektrons auf, verändert dabei aber gleichzeitig dessen Geschwindigkeit, die in diesem Augenblick nicht mehr genau gemessen werden kann.
Verzichtet man jedoch von vornherein auf eine genaue Lokalisierung und begnügt sich mit einem unscharfen Blick auf den Ort des Elektrons, so tritt auch eine entsprechend geringere Ungenauigkeit bei der Geschwindigkeitsmessung auf. Die Unbestimmtheiten der beiden Größen stehen also in direkter Beziehung zueinander. Daher nennt Heisenberg dieses Phänomen «Unbestimmtheitsrelation» oder «Unschärferelation». Und beim Multiplizieren beider Unschärfen kommt, was mathematisch außerordentlich befriedigend ist, das Planck’sche Wirkungsquantum wie von selbst ins Spiel. Die gleiche Beziehung trifft auch auf die Messwerte von Energie und Zeit zu. Die Unbestimmtheitsrelation macht Schluss mit der Vorstellung, auf der Quantenebene der Natur Vorhersagen treffen zu können. Was bleibt, sind lediglich Wahrscheinlichkeiten.
Heisenberg ist gespannt, wie die Physikergemeinde auf die Veröffentlichung seines neuen Prinzips reagieren wird. Die Arbeit hat er gerade erst an die Zeitschrift für Physik geschickt. Carl Friedrich von Weizsäcker hier im Taxi gehört zu den Ersten, denen er davon erzählt.
Der vierzehnjährige Überflieger muss sich beim Abschied von seinem Mentor reich beschenkt gefühlt haben. In jenen Tagen «strahlte aus Heisenberg der unglaubliche Glanz soeben geschehener großer Entdeckungen» [Her 1 :94]. Weizsäcker selbst muss vor Stolz fast geplatzt sein, denn er weiß jetzt etwas, das selbst Einstein noch nicht bekannt ist. Und so stellt er sich vor, dem größten Physiker der Welt hier auf der Straße zu begegnen. Immerhin wohnt der ja ganz in der Nähe: «… obwohl ich eigentlich schüchtern bin, würde ich … einfach keine Hemmungen haben, ihn anzusprechen und ihn zu fragen: Was halten Sie eigentlich von der Unbestimmtheitsrelation und von Werner Heisenberg?»
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