Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
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Vermutlich hätte ihn der theoretische Physiker mit der Neuigkeit überrascht, er sei jetzt unter die Praktiker gegangen, um Kühlschränke ohne mechanische Verschleißteile zu konstruieren. Zu diesem Zeitpunkt tüftelt der technikbegeisterte Einstein tatsächlich an einem Verfahren, das ohne die giftigen Kühlmittel Ammoniak, Methylchlorid und Schwefeldioxid auskommen soll. Kürzlich erst ist in Berlin eine ganze Familie im Schlaf erstickt, weil die Gase aus einer defekten Kühlpumpe entwichen sind. Der ehemalige «Patentierknecht» vom Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum in Bern meldet nun selbst in- und ausländische Patente für seine innovativen Kühlschränke an. Was Einstein offenbar als willkommene Entspannung von der nervenaufreibenden Mitwirkung an der Konstruktion der neuen Atomtheorie versteht. An dessen Blaupausen wird mittlerweile simultan in München, Göttingen, Berlin, Zürich und Kopenhagen gearbeitet. Zwar werden Einsteins Beiträge aufmerksam studiert, aber die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik gewinnt mittlerweile eine immer größere Bedeutung in der internationalen Physikergemeinde – eine Entwicklung, die dem Eistechniker nicht gefallen kann. An Max Born schreibt er den berühmt gewordenen Satz: «Die Quantenmechanik ist sehr Achtung gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der Alte nicht würfelt» [Cal:143]. Heisenberg glaubt es besser zu wissen. Er hat Gott auf frischer Tat beim Würfeln ertappt und wird nicht müde, diese ungeheure Neuigkeit zu verbreiten.
Einsteins Kompagnon bei seinen freiberuflichen Eskapaden ist der 1898 in Budapest geborene Physiker Leo Szilard. 1920 hat er sein Ingenieurstudium in Berlin aufgenommen, ist aber nicht sehr glücklich über diese Entscheidung gewesen. Es zieht ihn zu den großen Männern der Physik, zu Planck, Einstein, von Laue, Nernst und Franck. Szilard schneit in das berühmte Physik-Kolloquium herein, besucht unverbindlich Seminare und Vorlesungen. Zunächst hört er nur zu, macht sich Gedanken und nimmt Witterung auf. Aber dass er sich bald einmischen sollte, ahnt zuerst Max Planck, als Szilard sich im Herbst 1920 persönlich mit dem Wunsch bei ihm vorstellt, seinen Kurs zu belegen. Natürlich sei er aufgeregt und fühle sich stimuliert von der großartigen intellektuellen Atmosphäre der Berliner Physikergemeinde, lässt er Planck wissen. Aber eigentlich wolle er doch nur die physikalischen Fakten erfahren: «Die Theorien entwerfe ich dann schon selbst» [Lan:57]. Planck und Franck amüsieren sich köstlich über den frechen Neuzugang aus Budapest.
Doch der lässt es nicht bei flotten Sprüchen bewenden. Nur ein Jahr später promoviert er bei Nobelpreisträger Max von Laue mit einer genialen Antwort auf ein schwieriges, seit fünfzig Jahren ungelöstes Problem im Bereich der Thermodynamik – eine Arbeit, die sogar den Baumeister der Relativitätstheorie aufhorchen lässt.
Szilards nächstes Ziel ist der Erwerb eines zweiten Doktortitels, vorzugsweise in den Wirtschaftswissenschaften. Der irritierte Rektor der Universität kennt jedoch kein preußisches Gesetz, das die Verleihung eines zweiten Doktortitels an ein und dieselbe Person erlaubt. Er versteht auch gar nicht, warum die Behörde ihm zweimal im Grunde dasselbe bestätigen soll, nämlich dass er in der Lage sei, selbständig jegliches Wissen zu erwerben, ein unabhängiges Urteil zu fällen und somit die Reife besäße, ein Wissenschaftler und Gelehrter zu sein.
Und so schreibt Szilard im August 1922 erst einmal einen weiteren Aufsatz über ein thermodynamisches Thema. Dabei denkt er über den Energieumsatz im menschlichen Nervensystem nach. Um Informationen im Gehirn verarbeiten zu können, wird Energie verbraucht, wobei die «Entropie» oder Unordnung in Form von Wärme zunimmt. So mögen die Informationen zwar eine geordnete Struktur bilden, wie etwa eine Gedächtnisspur in den Nervenzellen, doch die beim Energieumsatz im Gehirn entstehende Unordnung ist immer größer als der Ordnungsgewinn. Szilard ist der erste Physiker, der den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf den Austausch von Informationen in Nervensystemen intelligenter Wesen anwendet. Damit hebt er ihn aus der Sphäre lärmender Dampfmaschinen wie Lokomotive, Dampfhammer und Wasserpumpe und bringt ihn dorthin zurück, wo er gefunden
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