Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
die Welt im Innersten zusammenhält» als die Atomphysiker. Die deutschen Teilnehmer Max Delbrück und Felix Bloch formulieren den klassischen Text um. Mit von der Partie sind auch der Ungar Edward Teller, der 1930 bei Heisenberg promoviert hat, und der neunzehnjährige Carl Friedrich von Weizsäcker, der als frühreifer «Sternkundicher» schon die Reime zu zwingen wusste.
Der Conferencier kündigt eine «quantentheoretische Walpurgisnacht» an, für die zunächst ein neuer Zeitparameter eingeführt werden soll, um sie von der klassischen Walpurgisnacht abzugrenzen. Doch dann fällt Faust ein, dass allein durch den beobachtenden Eingriff des Publikums die klassische Version des Hexensabbats elegant eliminiert wird, sodass man eigentlich auch gleich mit der quantentheoretischen Fassung beginnen könne. Es gibt Anspielungen auf persönliche Kontroversen und flaue Hypothesen. So wird Einsteins neue Feldtheorie als Floh dritter Generation im Ohr des großen Gelehrten durch den Kakao gezogen. Gutmütiger Spott ergießt sich über exzentrische Verhaltensweisen und Charakterschwächen der Kollegen, ein «falsches Vorzeichen» schleicht sich kokett unter die dramatis personae , und Goethes «Vier Graue Weiber» im fünften Akt heißen in Kopenhagen Eichvariante, Feinstrukturkonstante, Negative Energie und Singularität. Vor dieser geballten sachlichen Weiblichkeit graut den Physikern offenbar am meisten. Und zum letzten Vorhang singt der chorus mysticus zu Ehren von James Chadwick und seinem Neutron [Mey:335]:
Alles Geladene
Ist nur ein Gleichnis!
Das oft Missratene,
Hier wird’s Ereignis !
Das Phänomenale,
Hier ist’s getan !
Das Ewig-Neutrale
Zieht uns hinan!
Kapitel 5
TRANSURANE
Die University of California in Berkeley ist aus Robert Oppenheimers strengem Blickwinkel «wissenschaftliches Ödland» – im Gegensatz zu ihrem reizvoll in den Hügeln gegenüber der Bucht von San Francisco gelegenen grünen Campus. Das Wort Quantenmechanik ruft dort nur Achselzucken hervor. Oppenheimer hat das vergangene Jahr bei Wolfgang Pauli in Zürich verbracht und will nun hier, an der Pazifikküste, eine amerikanische Schule der Quantenmechanik begründen, die es langfristig mit Göttingen, Berlin, Cambridge und Kopenhagen aufnehmen kann. Paulis gefürchteter Sarkasmus und seine manchmal diabolische Kritik an Kollegen hat offenbar eine Saite in Oppenheimers Persönlichkeit in Schwingung versetzt. Es scheint, als hätten sich in der Schweiz zwei einzigartige Spötter und Nervensägen gesucht und gefunden. Pauli sei ein so ein großartiger Theoretiker, rühmt Oppenheimer seinen Mentor, dass alle Experimente schiefgehen und das Equipment zerbricht, wenn er ein Labor betritt. Auch Paulis Einschätzung seines Postdocs muss man als Lob werten: Die Ideen des Amerikaners seien stets originell gewesen. Nur habe ihm die Geduld und der Wille zur Gründlichkeit gefehlt, um sie auszuarbeiten. Außerdem habe er den Eindruck gewonnen, für Oppenheimer sei die Physik eine Nebenbeschäftigung, die Psychoanalyse hingegen seine wahre Berufung. Was J. J. Thomson, Max Born und Wolfgang Pauli an Oppenheimers Arbeitsweise immer bemängelt haben, entwickelt er im kalifornischen Berkeley zum vorherrschenden Stil. Zwar fühlen sich die Studenten anfangs von Oppenheimers Vortragsgeschwindigkeit überfordert, aber bald schon eilen sie mit ihm von einer Idee zur nächsten, immer auf dem neuesten Stand der europäischen Forschung. Oppenheimer ist kaum daran interessiert, stilistisch zu glänzen und bis ins kleinste mathematische Detail ausgearbeitete Artikel zu schreiben. Ihm geht es darum, seinen Studenten das aufregende Gefühl zu vermitteln, im Brennpunkt der quantentheoretischen Debatte zu stehen, der Physiker-Avantgarde sozusagen über die Schulter direkt in die Notizhefte zu schauen und sich mit frechen, intelligenten Kommentaren zu profilieren.
In seinem alten Chrysler liefert sich Oppenheimer Wettfahrten mit den Zügen der Pazifikküstenlinie, bis er einmal in der Nähe von Los Angeles die Kontrolle über den Wagen verliert und einen Unfall baut, bei dem seine Begleiterin ohnmächtig wird. Als Oppenheimer senior davon Wind bekommt, schenkt er der jungen Dame eine Originalzeichnung von Paul Cézanne und seinem Sohn ein neues Auto, das der, nach einem berühmten jüdischen Patriarchen, Gamaliel nennt [Bir:105]. Ein erstes ironisches Bekenntnis zu seinen jüdischen Wurzeln? Seinen vielseitigen literarischen und philosophischen Interessen setzt er ein
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