Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Ordnungszahl 93 entdeckt hat, jenseits des Urans also und – jenseits der Natur. Das erste von Menschenhand erzeugte chemische Element? Am 16. Juni soll Fermis historischer Artikel mit dem eher dezenten Titel «Über die mögliche Erzeugung von Elementen mit einer Ordnungszahl größer als 92» in der Fachzeitschrift Nature erscheinen. Als aber Orso Mario Corbino, der begeisterungsfähige Direktor des Physikalischen Instituts in Rom, 12 Tage vorher die prestigeträchtige Entdeckung sogenannter «Transurane» in seinem Institut als quasi erwiesenes Faktum öffentlich verkündet, bekommt Fermi kalte Füße. Der geheimnisvolle Begriff Transurane wird sofort von der Weltpresse aufgegriffen und als Sensation verkauft. Er selbst, sagt Fermi auf der «Krisensitzung» mit seinem Institutschef, würde eine so brisante Ankündigung nicht riskieren, bevor nicht alle Irrtümer ausgeschlossen seien. Entsprechend zurückhaltend fällt kurze Zeit später die gemeinsame Erklärung von Corbino und Fermi aus. Es müssten eben noch «zahlreiche und kritische Versuche unternommen werden, ehe die Erzeugung des Elements 93 als wirklich bewiesen gelten kann» [Fer:102].
Das fordert auch die deutsche Chemikerin Ida Noddack. Sie scheint nicht auf der Woge der Begeisterung für die Transurane mitschwimmen zu wollen und kritisiert Fermis Nachweismethode als «nicht stichhaltig». Sie wirft dem Team aus Rom vor, beim Vergleich ihrer neu gefundenen radioaktiven Substanz mit bekannten Elementen nicht gründlich genug vorgegangen zu sein. Warum der willkürliche und frühzeitige Abbruch bei Blei? Gerade weil es beim Thema Transurane um eine bahnbrechende Behauptung gehe, hätte Fermi doch erst noch weitere Elemente ausschließen müssen – wenn nötig bis hinunter zum Wasserstoff.
Mit der Suche nach neuen Elementen kennt Ida Noddack sich aus. 1925 hat sie, gemeinsam mit ihrem Mann Walter Noddack, das Element mit der Ordnungszahl 75 identifiziert und es Rhenium genannt – eine Referenz an ihre rheinische Heimat. 1932 ist sie erstmals für den Chemie-Nobelpreis vorgeschlagen worden und darf sich auch in diesem Jahr wieder Hoffnungen machen. Um zu betonen, dass Fermis Fazit, ein Element mit der Ordnungszahl 93 gefunden zu haben, nicht die einzige Schlussfolgerung aus dem Experiment sein muss, macht Ida Noddack in der renommierten Zeitschrift Angewandte Chemie vom 15. September 1934 einen forschen Alternativvorschlag. Zwar hätten sich beim Beschuss schwerer Elemente mit Alphastrahlen bisher regelmäßig Kernumwandlungen ereignet, die lediglich benachbarte Elemente entstehen ließen. Allerdings könne man «ebenso gut annehmen, dass bei dieser neuartigen Kernzertrümmerung durch Neutronen erheblich andere ‹Kernreaktionen› stattfinden, als man sie bisher … beobachtet hat … Es wäre denkbar, dass bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen …» [Nod].
Die «Zertrümmerung» des Uranatomkerns in «mehrere größere Bruchstücke». Sie setzt den entscheidenden Bestandteil dieser Provokation sogar kursiv, als wollte sie die saumseligen Italiener die Stufen des Periodensystems hinabscheuchen in die Region der mittleren Ordnungszahlen zwischen Vierzig und Fünfzig, damit sie dort die Bruchstücke des Urankerns aufsammeln. So könnten zum Beispiel Cadmium (48) und Ruthenium (44) zwei solche größeren Fragmente sein, die zusammen 92 ergeben, die Ordnungszahl von Uran. Oder Silber (47) und Rhodium (45). Oder Xenon (54) und Strontium (38). Wie wollten denn Fermi und sein Team diesen Zusammenhang ausschließen, wenn sie schon beim Blei mit der Ordnungszahl 82 ihre Vergleiche einstellten? Doch Ida Noddack wird gnadenlos ignoriert. Selbst wenn Fermi vielleicht bereit wäre, Noddacks Kritik an seiner chemischen Analyse anzunehmen, muss ihre Interpretation der Urankernreaktionen für den Praktiker aus Rom völlig unsinnig klingen. Denn hat er nicht gerade alle Elemente mit Neutronen bombardiert und stets nur minimale Fragmente abgesprengt? Und nun soll plötzlich ausgerechnet das schwerste aller Elemente in größere Bruchstücke zertrümmert worden sein? Das klingt zu verrückt, um wahr zu sein.
Im Oktober 1934, vier Wochen nach dem Zwischenruf von Ida Noddack, setzt das Fermi-Sextett seine Bestrahlungsversuche fort, um eine Skala der Aktivierbarkeit von Kernen aufzustellen. Merkwürdigerweise messen sie beim Bestrahlen eines Silberzylinders, der auf einem Holztisch steht, eine
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