Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
aus reinem Spaß lexikalisches Wissen aus entlegenen Gebieten, um die Freunde mit gelehrten Dialogen zu beeindrucken und ihnen knifflige Fragen zu stellen, die die beiden wandelnden Lexika dann aber, ohne ernsthaft eine Antwort abzuwarten, voller Stolz und mit entnervender Liebe zum Detail selbst beantworten. An der Universität Rom bekommen Fermi und Rasetti bald einen Spitznamen verpasst. Fermi ist «der Papst» und Rasetti «der Kardinal». Fermis herzliche und spielerische Wissensvermittlung macht ihn zum beliebten Lehrer an der Hochschule.
Zwar haben die Joliots die künstliche Radioaktivität mit Hilfe von Alphateilchen entdeckt, doch werden diese Geschosse beim Flug durch das Zielatom von den Elektronen abgebremst. Die meisten erreichen den Kern dann gar nicht mehr. Außerdem sind sie zu schwach, um den Atomkern schwererer Elemente zu knacken. Als Enrico Fermi im Frühjahr 1934 die künstliche Radioaktivität weiter erforschen will, ist die Existenz des Neutrons als elektrisch neutrales Teilchen seit zwei Jahren bekannt. Die Neutronen sollten eigentlich – so lautet zumindest die Theorie – ungebremst das Atom durchdringen und den Kern aufbrechen können. Aber ernsthaft versucht hat es noch niemand.
Leo Szilard denkt zwar daran und malt sich die Ergebnisse aus, aber er hat kein Universitätslabor im Rücken, und seine potenziellen Mäzene lassen sich von seiner Begeisterung für die Erforschung nuklearer Kettenreaktionen durch Neutronenbeschuss nicht wirklich anstecken. Oppenheimers «Giftapfelopfer» Patrick Blackett, der Max Born kürzlich nach Cambridge geholt hat, macht Szilard keine Hoffnung auf Förderung in England. Für Verrückte seines Kalibers mit kostspieligen Ideen ließe sich wohl nur in Russland noch eine Karriere anschieben. Für «Staatsphysiker» herrschten dort noch paradiesische Zustände. Während Szilard also weiter an Türen klopft und Hände schüttelt, hat Enrico Fermi keine Scheu, Szilards Gedankenspiel in die Tat umzusetzen und systematisch alle 92 Elemente mit Neutronen zu beschießen. Mit dem Unterschied, dass der Italiener dabei nicht an Kettenreaktionen und an die Freisetzung der Atomenergie denkt, sondern auf neue Einsichten in den Prozess der künstlich hervorgerufenen Radioaktivität hofft.
Im März 1934 nimmt er die selbst gewählte Herkulesaufgabe in Angriff, alle chemischen Elemente auf künstliche Radioaktivität zu untersuchen. Sein Mitarbeiter Emilio Segrè wird zum Chefeinkäufer bestimmt. Er hat das Budget von sagenhaften 20 000 Lire – ungefähr 1000 Dollar – immer in der Tasche, wenn er mit einem Marktkorb in seinen bevorzugten Laden für Chemiebedarf spaziert und die selteneren Elemente einkauft, die nicht auf den Regalen in Fermis Institut stehen. Währenddessen versucht Fermi sich selbst schon einmal als Apparatebauer, denn Geigerzähler lassen sich auch 1934 noch nicht ohne weiteres im Handel erwerben. Zum Nachweis der Zerfallsprodukte braucht er nämlich gleich ein halbes Dutzend der Geräte. Viel wichtiger aber ist die Beschaffung einer passablen Neutronenquelle. Dabei ist ihm die «Göttliche Vorsehung» behilflich. Sie erscheint ihm in Gestalt von Professor Giulio Cesare Trabacchi. Er ist der Direktor des Gesundheitsamtes und hat sich wegen seiner legendären Hilfsbereitschaft diesen in Italien an Blasphemie grenzenden Spitznamen eingehandelt.
Im Keller des Physikalischen Instituts steht ein Tresor, in dem Trabacchi ein Gramm Radium aufbewahrt und dort seinem Zerfallsprozess überlässt. Enrico Fermi erhält die Erlaubnis, das dabei entstehende Radon durch ein Glasröhrensystem aus dem Panzerschrank entweichen zu lassen. So gelangt das radioaktive Gas zur Reinigung in einen Apparat. Von dort aus kann es dann in Glasbehälter von einem Zentimeter Länge abgefüllt werden, in dem sich etwas Berylliumpulver befindet. Die Abfüllung ist ein heikler Prozess. Häufig zerbrechen Fermis Mitarbeitern die dünnen Röhrchen zwischen den Fingern. Gelingt es ihnen jedoch, sie zu versiegeln, sprudelt die Neutronenquelle – gemäß der kurzen Halbwertszeit des Radons – ein paar Tage lang kräftig genug, um die eigentlichen Experimente durchzuführen. Wenn das eingefangene Radon nun seinerseits zerfällt, regen nämlich dessen Alphateilchen das Beryllium an, eine Million Neutronen in der Sekunde abzugeben. Fermi geht methodisch vor und bombardiert zuerst Wasserstoff, das leichteste Element – ohne Erfolg. Auch bei den nächsten Elementen in der Tabelle
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