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Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe

Titel: Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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Tochtersubstanzen wollen über mehrere Generationen hinweg identifiziert werden. Die vorherrschenden Leitprinzipien der Physik und Chemie lassen die Einordnung der Reaktionsprodukte als Transurane zu. Folgerichtig bestätigen die Berliner Fermis Spekulationen über künstliche Elemente, die schwerer sind als Uran. Langsame Neutronen erzeugen andere Uranzerfallsreihen als energiereiche Geschosse. Die Bedeutung dieser seltsamen Ergebnisse bleibt jedoch ein Rätsel.
    Lise Meitner ist die treibende Kraft des Berliner Trios. Auch wenn sich Hahn und Straßmann über bisher unbekannte Substanzen und die dazu passenden Zahlen freuen, bleibt die Physikerin unruhig. Und wenn Hahn zum wiederholten Mal im Gespräch mit ihr die Korrektheit seiner Arbeit beteuert, kann es geschehen, dass sie erwidert: «Sei still Hähnchen, und geh nach oben. Von Physik verstehst du nichts», worauf der sich trollt – ein running gag zwischen den seit fast 30 Jahren miteinander Vertrauten, den sie Besuchern und Freunden immer wieder gern vorführen. Meitner feuert die Herren Chemiker an, auch die bei der Trennung der Radioaktivitäten entstehenden Filtrate genau zu untersuchen. Darunter befindet sich ein ominöser «23-Minuten-Körper», über den Meitner gern etwas näher Bescheid gewusst hätte. Doch Hahn und Straßmann erscheint diese Arbeit zu kompliziert und sinnlos obendrein. Aus ihrer Sicht liefern sie der «Chefin» chemisch einwandfrei identifizierte Transurane auf dem Silbertablett. Wozu also noch im Abfall wühlen?
    Meitner weiß zwar, dass Hahn und Straßmann als Chemiker recht haben müssen, kann aber als Physikerin mit ihrem unzureichenden Verständnis der Kernreaktionen nicht zufrieden sein. Im Sommer 1936 glaubt Straßmann einmal, unter den kurzlebigen Aktivitäten des Urans Barium gefunden zu haben, das Element mit der Ordnungszahl 56 – für Meitner ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hält Straßmann von jeder weiteren Untersuchung ab, denn es kann ja nur ein «Verschmutzungseffekt» sein. Hahn, Meitner und Straßmann veröffentlichen zwar einen Artikel, in dem sie die Entdeckung von vier Transuranen zweifelsfrei bestätigen. Für Lise Meitner aber haben die unerwartet komplexen, noch unverstandenen physikalischen Vorgänge bei der Neutronenbestrahlung des Urans genauso große Bedeutung wie die Transurane selbst [Sim 1 :223]. Inzwischen denkt auch in Berkeley, Cambridge, Paris und Zürich niemand mehr an Noddacks Idee der Kernzertrümmerung in ungefähr gleich große Fragmente.
     
    Während das Trio in Dahlem mit modernstem Equipment auf Weltniveau arbeitet, trägt Leo Szilard in London seine mobile Ausrüstung in zwei Lederreisetaschen ständig bei sich. In der Nähe seines Hotels hat er zwei Zimmer gemietet, die zum Atomphysiklabor mutieren, sobald er seinen Fuß über die Türschwelle setzt und den Inhalt seiner Taschen auspackt. In Wechselwäsche eingewickelt: Geigerzähler, Paraffinklotz, Verstärker, Metallfolien in Zigarettenschachteln und ein Notizheft [Lan:157]. Seine Neutronenquelle ist die bewährte Mischung aus Radon und Beryllium. Mit den hier gewonnenen und veröffentlichten Erkenntnissen über Neutronenabsorption in bestrahlten Atomkernen beeindruckt er sogar Niels Bohr und Ernest Rutherford, der ihn kürzlich noch aus seinem Institut geworfen hat. Im September 1935 bietet Leo Szilard seine beiden Patentschriften für nukleare Kettenreaktionen bei kritischer Masse der britischen Admiralität an. Er verzichtet auf Lizenzen und Honorare. Ihm geht es allein um die militärische Geheimhaltung seiner Ideen. Er will sie vor dem Zugriff der Deutschen bewahrt wissen.
    Am 12. Dezember 1935 empfängt das Ehepaar Joliot-Curie den Chemie-Nobelpreis. Sie haben bewiesen, dass sich chemische Elemente durch Bestrahlung in radioaktive künstliche Elemente umwandeln lassen. Frédéric Joliot spricht zum Schluss seiner Rede vom erstaunlichen Fortschritt der Naturwissenschaften und warnt vor dem zerstörerischen Aspekt der Freisetzung atomarer Energie. «Forscher, die Elemente nach Belieben zertrümmern und neu wieder zusammensetzen, werden auch Transmutationen der explosiven Art, nämlich echte chemische Kettenreaktionen, hervorbringen» [Jol]. Damit gelingt ihm – ob beabsichtigt oder nicht – eine Referenz an Alfred Nobel, den Erfinder des Dynamits. Joliot spricht auch nicht von Trans form ationen, sondern von Trans mut ationen, die zur Vernichtung der Welt führen könnten – ganz im Sinn der alchemistischen Tradition, der

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