Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
höhere Radioaktivität als beim gleichen Versuch auf einer Marmorplatte. Sollten etwa unterschiedliche Materialien den Neutronenstrom beeinflussen können? Während alle Mitarbeiter an defekte Apparate glauben, lässt sich Fermi auf dieses seltsame Phänomen ein und verändert konsequent die Versuchsanordnung. Am Morgen des 22. Oktober will er gerade einen nach seinen Anweisungen sorgfältig geschliffenen Keil aus Blei zwischen Neutronenquelle und Silberzylinder schieben, da entscheidet er sich im letzten Moment für Paraffin – eine im Nachhinein unerklärliche Eingebung, eine seiner berühmten Entscheidungen con intuito formidabile , wie er sie selbst gern nennt: Famose Intuitionen.
Diese hier führt zu einer folgenreichen Entdeckung, die Laura Fermi so beschreibt: «Sie nahmen einen großen Paraffinblock, [höhlten ihn aus], setzten die Neutronenquelle [hinein], bestrahlten nun den Silberzylinder und brachten ihn zu einem Geigerzähler, um seine Aktivität zu messen. Der Zähler tickte rasend. [Im ganzen] Physikgebäude [hörte man sie rufen]: ‹Phantastisch! Unglaublich! Schwarze Magie!›» [Fer:109]. Die Wirksamkeit der Bestrahlung hat mit dem Paraffinfilter glatt um das Hundertfache zugenommen. Irgendwie muss das Paraffin die Neutronen beschleunigt haben, lautet die erste Hypothese. Nach dem Mittagessen und dem üblichen Schläfchen hat Fermi die genau entgegengesetzte Erklärung parat. Paraffin hat einen hohen Wasserstoffanteil. Und da Wasserstoffatome reine Protonen sind, stoßen die Neutronen beim Flug durch das Wachs mit sehr vielen Protonen zusammen, bevor sie auf den Silberzylinder treffen. Da ein Neutron die nahezu gleiche Masse wie ein Proton hat, verliert es beim Zusammenstoß mit ihm einen Teil seiner Energie und wird abgebremst. Aber gerade dieses verlangsamte Neutron wird nun mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Silberatomkern treffen und sprengen, als ein schnelleres Neutron. Fermis patente Frau erklärt diesen Zusammenhang am Beispiel eines Golfballs, der drei Meter vor dem Loch liegt. Nur ein langsamer Ball rollt ins Ziel. Ein schwungvoll beschleunigter Ball schießt darüber hinaus. Auch der Holztisch im Labor bremst anscheinend die Neutronen wirksamer ab als die Marmorplatte.
Wenn also die Wasserstoffatome im Paraffin die Neutronen abbremsen und dadurch die künstlich hervorgerufene Radioaktivität des Silbers verstärkt wird, drängt sich ein Versuch mit Wasser geradezu auf. Noch am gleichen Nachmittag wird die naheliegende Idee in die Tat umgesetzt. Die im Labor stehenden Behälter scheinen dem euphorisierten Team allerdings nicht groß genug zu sein, um die von Fermi geforderte «beträchtliche Menge Wasser» zu fassen. Schließlich erinnert sich jemand an den Goldfischteich, den Hausherr Corbino im Garten des Physikinstituts zwischen Blumenbeeten und Mandelbäumen angelegt hat. Und so versenkt das Sextett Neutronenquelle und Silberzylinder kurz entschlossen im Teich. Seine erste Hypothese scheint sich zu bestätigen, denn auch im Wasser nimmt die Aktivität des Silbers heftig zu. Langsame Neutronen sind offenbar der Schlüssel zu einer größeren Ausbeute künstlich erzeugter radioaktiver Substanzen. Mit dieser neuen Erkenntnis lassen sich in Zukunft die teuren radioaktiven Stoffe im medizinischen und industriellen Betrieb durch künstliche ersetzen. Der 1933 nach England emigrierte deutsch-jüdische Physiker Hans Bethe hat den Marmorreichtum Italiens gepriesen und die Vermutung geäußert, die langsamen Neutronen konnten eigentlich nur in Fermis Heimat entdeckt werden. In Amerika hätte man die Versuche «alle auf Holztischen durchgeführt und wäre nie dahintergekommen» [Rho:213].
Doch nach diesen bahnbrechenden Entdeckungen tritt man in Rom bei der Analyse des Uranzerfalls auf der Stelle. Die Angelegenheit ist hochkomplex, und als die Fortschritte ausbleiben, löst sich die Gruppe um Fermi auf. Niemand denkt zu diesem Zeitpunkt an Versuche zur Freisetzung der Atomenergie. Abgesehen natürlich von Leo Szilard. Seinen potenziellen Finanziers stellt er «eine Energieproduktion … in so großem Maßstab und mit voraussichtlich so geringen Kosten» in Aussicht, «dass man mit einer Art industriellen Revolution rechnen könnte. Ob der Kohlebergbau oder die Erdölindustrie das länger als ein paar Jahre überleben würden, wage ich zu bezweifeln» [Bod:28]. Inzwischen hat Szilard mit seinen grandiosen Visionen auch Chaim Weizmann weichgeklopft. Ob er ihn wirklich von seiner Idee
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