Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
einer nuklearen Kettenreaktion überzeugt hat, sei dahingestellt. Zumindest aber hat Weizmann ihm versprochen, sich um die 10 000 Dollar zu bemühen, die Szilard für seine Versuche braucht. Ungeduldig wartet er in London auf das Geld. Wie Fermi will Szilard sämtliche Elemente mit Neutronen bestrahlen, um zu sehen, aus welchem Stoff er zusätzliche Neutronen herausschlagen kann, um eine nukleare Kettenreaktion auszulösen.
Bis es so weit ist, beschießt er schon mal Beryllium, das er als Spitzenkandidaten für die Auslösung einer Kettenreaktion auserkoren hat, mit Neutronen. Seinem verbindlich-jovialen Plauderton und der beiläufigen Erwähnung illustrer Namen aus seinem Freundeskreis hat er wohl auch die Erlaubnis zu verdanken, ein in den Sommersemesterferien verwaistes Labor in London benutzen zu dürfen. Als er dabei plötzlich einem unkontrollierbaren Chaos aus Zerfallsreihen und Zwischenprodukten gegenübersteht, macht er in typischer Selfmademan-Manier aus der Not eine Tugend und erfindet gemeinsam mit dem Laborassistenten Thomas Chalmers kurzerhand eine einfache, elegante und billige Methode zur Trennung radioaktiver von nichtradioaktiven Atomsorten desselben Elements. Die Beschreibung dieses Verfahrens verschafft ihm im Sommer 1934 Respekt in der Gemeinde und markiert seine Geburtsstunde als Kernphysiker [Lan:147]. Doch der Königsweg zu einer passablen Kettenreaktion im Berylliumkern bleibt ihm weiterhin versperrt.
Brennend interessiert an Fermis Experimenten zeigt sich Lise Meitner in Berlin. Nur allzu gut erinnert sie sich an Fermis Mitarbeiter, den Charmeur Franco Rasetti, der zwei Jahre zuvor als Gast in ihrem Institut gearbeitet hatte. Fast wären sie beide als Entdecker des Neutrons in die Geschichtsbücher eingegangen. Meitners Vorhersage eines elektrisch neutralen Kernbausteins von 1921 und Rasettis Untersuchung der unverständlichen Berylliumstrahlung unter ihrer Anleitung lief darauf hinaus [Hof 1 :104]. Aber James Chadwick war mit seiner Veröffentlichung vier Wochen schneller als das deutschitalienische Team. Ein paar Tage vor dem 22. Oktober 1934 mit all den Aufregungen in Rom um einen Paraffinklotz und einen Goldfischteich ist Meitner nun bei der Rekonstruktion einer Versuchsanordnung von Leo Szilard, parallel und unabhängig von Fermi, zu der Vermutung gelangt, die Energie und somit die Geschwindigkeit der Neutronen könnte bei der Erzeugung künstlicher Radioaktivität von ausschlaggebendem Einfluss sein. Nun möchte sie Fermis Versuche wiederholen. Auch sie hält die Existenz von Transuranen grundsätzlich für möglich, weiß aber auch, dass sie als Physikerin bei einer weiterführenden Untersuchung des Urans einen hervorragenden Chemiker an ihrer Seite braucht, der die radiochemischen Analysen liefert. Sie muss nicht lange überlegen. Einer der weltbesten Kandidaten für diesen Job arbeitet im gleichen Gebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Dahlem wie sie selbst – nur ein Stockwerk über ihrem Labor. Sein Name ist Otto Hahn.
Zwölf Jahre sind beide beruflich eigene Wege gegangen, ohne dass ihre Freundschaft darunter gelitten hat. Wie kein Zweiter ist Hahn prädestiniert, die verwirrend zahlreichen Aktivitäten und Zerfallszeiten bestrahlten Urans richtig zu bewerten. Ein paar Wochen lang ziert er sich noch, aber im August 1934 nehmen Physikerin und Chemiker ihre bewährte Teamarbeit wieder auf.
Ein Jahr zuvor hat Lise Meitner ihre Professur an der Universität Berlin niederlegen müssen – auch sie ein Opfer des Arierparagraphen, denn nach den Kategorien der neuen Machthaber ist Lise Meitner eine fünfundzwanzigprozentige Jüdin. Ihre Stellung am nichtstaatlichen Kaiser-Wilhelm-Institut ist vorerst nicht gefährdet. Noch ist sie geschützt durch ihren österreichischen Pass. Hahn steht unter besonderer Beobachtung der Parteimitglieder im eigenen Haus, da er sich offenkundig nicht zum Nationalsozialismus bekennen will. Ende des Jahres 1934 stößt der zweiunddreißigjährige Chemiker Dr. Fritz Straßmann zum Team. Auch er weigert sich standhaft, einer nationalsozialistischen Berufsorganisation beizutreten, sodass hier ein Trio zusammenarbeitet, das den Argwohn des Regimes auf sich zieht.
Zunächst einmal gelingt es ihnen, die kurzlebigen Produkte des bestrahlten Urans besser voneinander zu trennen, als Fermi dies bisher geleistet hat. Dabei bringen sie allerdings ständig neue Stoffe mit überraschenden Familienverhältnissen hervor. Mutter- und
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