Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
Tonnen Trockeneis geschmolzen, sodass er den Versuch enttäuscht abbrechen muss.
Zur gleichen Zeit wird der Albtraum der drei Ungarn in Amerika wahr: Die deutsche Wehrmacht marschiert in einer Blitzaktion in Belgien ein und besetzt tatsächlich auch die Lagerhallen der Firma Union Minière du Haut Katanga, wo 3500 Tonnen hochwertige Uranverbindungen aus Belgisch-Kongo lagern. Der erste Befehl der neuen Herren verlangt die sofortige Lieferung von 60 Tonnen an die Auer-Werke in Berlin. Für Paul Harteck kommt die Kriegsbeute aus Belgien zu spät. Bis das Kongo-Erz zu Präparat 38 aufbereitet ist, vergeht zu viel Zeit. Außerdem ist jetzt erst einmal Werner Heisenberg an der Reihe. In nächster Zeit werden alle alten und neuen Uranvorräte ausschließlich an seine Teams in Berlin und Leipzig geschickt. In Diebners Augen hat Harteck seine Chance gehabt und sie nicht nutzen können. Seine Idee, Trockeneis als hochreinen Moderator für einen Uranmeiler zu verwenden, wird nicht weiter gefördert. Hätte Harteck im Mai 1940 ein paar mehr Zentner vom begehrten Uranoxid zur Verfügung gehabt, wären seine Messwerte vermutlich so vielversprechend ausgefallen, dass er eine ausgezeichnete Position im Wettlauf um den ersten selbsterregten Uranbrenner eingenommen hätte – nicht nur innerhalb des Uranvereins, sondern durchaus auch in Konkurrenz zu Fermi in New York [Ber 1 :26].
Während Enrico Fermi in seiner Nobelpreisrede 1938 die vermeintlichen Transurane noch mit poetischen Namen schmückte, pflegten Otto Hahn und Fritz Straßmann ein eher nüchternes Verhältnis zu ihren Objekten der Neugier. In Berlin wurden die Transurane einfach nach ihren Kernladungszahlen durchnummeriert: 93, 94, 95, 96. In diesen aufregenden Dezembertagen waren die beiden Radiochemiker allerdings schon auf dem besten Weg, die Existenz dieser seltsamen Elemente als historischen Irrtum zu durchschauen. Sie erwiesen sich lediglich als Kernspaltungstrümmer. Ende Mai 1940, als Hartecks Trockeneis zu schmelzen beginnt und die ersten Güterwaggons mit Uran von Belgien nach Berlin rollen, erlebt die Idee von künstlichen Elementen, die schwerer sind als Uran, eine Renaissance. Und dieses Mal steht ihre Theorie auf festem Fundament. Ironischerweise führt die Entdeckung des ersten echten transuranischen Elements über den obskuren «23-Minuten-Körper», den Lise Meitner einige Jahre zuvor von Hahn und Straßmann genauer analysiert haben wollte, was die Chemiker aber als unnötigen Aufwand ablehnten. Die beiden amerikanischen Physiker Edwin McMillan und Philip Abelson holen dieses Versäumnis nun nach und stellen fest: Wenn ein Uran-238-Atom ein Neutron aus einer Strahlenquelle einfängt, entsteht ein Uran-239-Atom. Es ist identisch mit dem Dahlemer 23-Minuten-Körper und zerfällt mit genau dieser Halbwertszeit in ein neues Element mit der Kernladungszahl 93. McMillan nennt es, der Planetentradition folgend, «Neptunium». 1846 führte die Beobachtung einer Störung der Uranusumlaufbahn auf die Fährte des Planeten Neptun. Mit seiner Namenswahl stellt McMillan eine bemerkenswerte Entsprechung zwischen kosmischer und subatomarer Ebene her. Aus einer Störung des Uranatomkerns geht Neptunium hervor. Tief enttäuscht reagiert Lise Meitner in Stockholm. Sie hatte vor Jahren in Dahlem schon die richtige Intuition und empfindet nun die verpasste Entdeckung als «crêve cœur» – einen Stich ins Herz [Sim 1 :364].
Dieses erste echte Transuran zerfällt nun seinerseits mit einer Halbwertszeit von 32 Stunden in ein weiteres neues Element mit der Kernladungszahl 94. Erfreulicherweise ist seit 1930 mit Pluto die Existenz eines weiteren Planeten im Sonnensystem bekannt, der ebenfalls noch nicht mit einem chemischen Element in Verbindung gebracht worden ist. Das zweite Transuran, das aus dem ersten hervorgeht, nennen McMillan und sein Kollege Glenn Seaborg zwei Jahre später dann auch «Plutonium». Eine Atomsorte des Plutoniums hat eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren. Obwohl es im Mai 1940 noch keine wägbaren Mengen Plutonium zur genaueren Untersuchung gibt, lässt sich aus der Bohr-Wheeler-Theorie der Kernspaltung vom vergangenen Jahr eine Schlussfolgerung ableiten, die die deutschen und amerikanischen Reaktorforscher elektrisiert: Nicht nur die seltene Uranatomsorte mit 235 Kernbausteinen lässt sich spalten, sondern auch das transuranische Element 94 namens Plutonium.
Die im Natururan dominierende und bisher für unwirksam gehaltene Atomsorte mit
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