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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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gerichtet, während ich angestrengt nachdachte. ORA PRO NOBIS … Bete für uns. Die verschlüsselten Worte, hinten auf der letzten Seite, von Roger Mercers Almanach. Ein Fürbittegebet, ein Fragment des Ave Maria oder der Litaniae Sanctorum, denn wo – außer in der der Messe – würde ein ungebildeter Mann wie Humphrey ein paar lateinische Brocken aufschnappen können? Demnach hatte der junge Humphrey Pritchard entweder heimlich eine katholische Liturgie mit angehört oder daran teilgenommen. Oder hatte er diese Worte irgendwelchen Leuten abgelauscht, die er von der Schänke her kannte? Das würde erklären, warum seine Arbeitgeberin ihn unbedingt an Gesprächen mit Fremden hindern wollte. Und warum hatte Roger dieselben Worte mittels eines Codes verschleiert? Es musste sich um eine Losung oder vielleicht um ein Zeichen handeln, an dem Verschwörer einander erkannten. War das Catherine Wheel eine Art Treffpunkt oder sicheres Haus für heimliche Katholiken – wollte mich mein hintergründiger Nachrichtenüberbringer etwa in diese Richtung lenken?
    Mir wurde bewusst, dass ich, während ich meinen Gedanken nachhing, die ganze Zeit den Mann ohne Ohren angestarrt
hatte, und als sei dieser dadurch zum Leben erweckt worden, erhob er sich, klopfte sein Wams ab und bat die Wirtin um die Rechnung.
    »Witwe Kenney, ich muss Euch leider verlassen – es ist zwar Sabbat, aber das Geschäft ruft trotzdem«, verkündete er. Zu meiner Überraschung sprach er mit dem Akzent eines gebildeten Mannes, was in einem verwirrenden Kontrast zu seinem Äußeren stand, welches ihn wie einen gewöhnlichen Kriminellen wirken ließ. Wieder einmal mahnte ich mich, keine voreiligen Schlüsse aus dem Benehmen und der äußeren Erscheinung eines Menschen zu ziehen. Ich wartete, bis die Tür hinter ihm zugefallen war, bevor ich seinem Beispiel folgte. Falls mein hastiger Aufbruch den Argwohn der Witwe Kenney erweckt hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie dankte mir nur mit ausdrucksloser Miene, nachdem ich ein paar Münzen auf den Tisch geworfen hatte und zur Tür hinauseilte. Draußen verrenkte ich mir fast den Hals, als ich in beide Richtungen der Straße nach ihm Ausschau hielt. Hoffentlich war der ohrlose Mann nicht bereits außer Sichtweite.
    Ich hatte Glück, er erreichte soeben die Kirche am Ende der Straße. Mich erneut im Schatten der Gebäude zu meiner Linken haltend nahm ich die Verfolgung auf, die ich auf Anhieb als weitaus befriedigender empfand als die von Gabriel Norris – sozusagen eines Agenten Walsinghams würdig –, und ich spürte, wie ein Adrenalinstoß durch meine Adern strömte.
    Der ohrlose Mann überquerte die breite Straße und schritt unter dem Nordtor hindurch, vorbei an der Kirche St. Michael und dem Bocado, dem Stadtgefängnis. Ich folgte ihm in sicherer Entfernung die Summer Lane entlang, und wir passierten erst die Front des Exeter College, anschließend die Rückseite der Divinity School. Einmal beschlich mich das unbehagliche Gefühl, selbst verfolgt zu werden. Ich drehte mich jäh um, stellte jedoch fest, dass sich außer mir nur eine Handvoll Menschen auf der Straße befand, von denen keiner Notiz von mir zu nehmen schien, also schrieb ich den Eindruck meinen überreizten
Nerven zu und behielt weiterhin den Mann ohne Ohren im Auge.
    Dieser bog an der nächsten Ecke in die schmale Catte Street ein, in der die Häuser eng aneinanderstanden und ihre oberen Fachwerk-Geschosse von beiden Seiten über die Gasse ragten, sodass kaum ein Sonnenstrahl hineinfinden konnte und der Boden stets feucht war. Die Fülle bemalter, sacht im Wind schwingender Schilder verriet, dass es sich um eine Geschäftsstraße handelte; bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass an diesem Ort die Bedürfnisse von Akademikern und Gelehrten befriedigt wurden: Hier boten Drucker, Papierhändler, Robenschneider und Buchbinder ihre Waren feil, am heutigen Sonntag freilich waren alle Läden geschlossen und verriegelt.
    Der ohrlose Mann verlangsamte seine Schritte. Ich tat es ihm gleich und hielt mich in sicherem Abstand hinter ihm, da kam eine in einen schwarzen akademischen Talar gehüllte Gestalt mit einer Samtkappe auf dem Kopf aus der entgegengesetzten Richtung auf uns zu. Sie schleppte sich langsam und steifbeinig voran, wie ein alter Mann, dem jede Bewegung Schmerzen bereitete. Der Ohrlose blieb vor einem schmalen Geschäft mit schmierigem Fenster stehen und hob grüßend eine Hand. Der Mann mit der Samtkappe

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