Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
Vom Netzwerk:
zurückzugehen. Ich hatte nichts erreicht, nur meine Zeit verschwendet. Insgeheim hatte ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, tatsächlich gehofft, Norris bei einem Treffen mit einem jungen Burschen zu ertappen, aber zu meinem Leidwesen hatte er nichts getan, was sich gegen ihn verwenden ließe – es lag nahe, dass ein reicher junger Mann Bekannte unter den großen Familien Oxfords hatte, und dieses Haus gehörte eindeutig wohlhabenden Leuten. Resigniert trat ich den Rückweg an, an den Feldern vorbei, und jetzt nahm ich mir die Zeit, um den Geruch von feuchter Erde und den frischen Duft von Blütenblättern aufzusaugen, der von den Obstgärten herüberzog. Erst nach einiger Zeit fiel mir wieder ein, was Lawrence Weston mir über das Pferd erzählt hatte, das Norris irgendwo außerhalb der Stadtmauern untergebracht hatte. Zweifellos wollte er den Sonntag lediglich zu einem Ausritt nutzen, und ich dankte meinem Schöpfer stumm dafür, dass mein von mir Observierter mich nicht bemerkt und mir so erspart hatte, mich mit fadenscheinigen Ausreden aus einer mehr als misslichen Situation herauszuwinden.

    Trotz meiner Enttäuschung empfand ich hier draußen auf dem offenen Gelände in der vom Regen gereinigten frischen Luft ein berauschendes Gefühl der Freiheit – ich war der bedrückenden Enge des Lincoln College mit all seinen Intrigen und bösartigen Unterströmungen entronnen, die irgendwie zum Tod des armen Doktor Mercer geführt hatten. Da ich keine Lust verspürte, allzu bald an diesen Ort zurückzukehren – ich meinte dort immer, hinter jedem der Fenster würde ein feindseliges Augenpaar jeden meiner Schritte beobachten – beschloss ich, den langen Weg außen um die Stadtmauer herum zu nehmen, meine Umgebung ein wenig zu erkunden und dabei nach einer Wirtschaft Ausschau zu halten, in der ich – endlich – eine warme Mahlzeit zu mir nehmen könnte.
    Ich befand mich fast auf einer Höhe mit der alten Kirche St. Mary Magdalen, neben einem windschiefen, verfallenen Gebäude, das aussah, als habe es einst eine Schänke beherbergt, als plötzlich ein Windstoß durch die Straße fegte und die letzten Blüten von den Bäumen riss. Über meinem Kopf ertönte ein lautes Knarren, ich schrak zusammen, blickte auf und sah ein altes, bemaltes Schild an seinen rostigen Haken hin- und herschwingen. Bei seinem Anblick sprang ich mit einem unterdrückten Aufschrei zurück, denn auf diesem Schild prangte, noch deutlich zu erkennen, obwohl die Farbe ausgebleicht war und abblätterte, ein Rad mit Speichen. Es war exakt dasselbe Symbol, das immer wieder in Roger Mercers Kalender auftauchte und das in das astronomische Diagramm eingezeichnet worden war, das mir jemand unter der Tür hindurchgeschoben hatte.
     
    Da die Front des Hauses so baufällig wirkte, hatte ich nicht damit gerechnet, dass sich die Tür überhaupt öffnen ließe, doch als ich den Knauf drehte, schwang sie auf, und ich konnte einen Blick in einen Raum mit niedriger Decke werfen, der nach Moder und Feuchtigkeit roch und nur mit ein paar grob gezimmerten Tischen und Bänken möbliert war. In der Luft lag beißende Kälte, im Kamin, der eine ganze Wand einnahm, brannte
kein Feuer, sondern häufte sich nur kalte Asche. Die wenigen Gäste unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und beugten sich so tief über ihre Bierkrüge, als schämten sie sich ein wenig dafür, an einem solchen Ort angetroffen zu werden. Dies war ganz offensichtlich nicht die Art von Schänke, in der Fremde willkommen waren. Trotzdem schloss ich mit wild hämmerndem Herzen behutsam die Tür hinter mir und setzte mich an einen Ecktisch neben der Durchreiche. Mir war sehr wohl bewusst, dass mein Eintreten die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregt hatte. Zu meiner Überraschung entdeckte ich in einer Gruppe von vier Männern, die mich von einem Tisch am anderen Ende des Raumes her anstarrten und die hinter vorgehaltener Hand miteinander tuschelten, den pockennarbigen Mann ohne Ohren, den ich vor der Disputation vor der Divinity School gesehen hatte – den Mann, von dem ich sicher war, dass James Coverdale ihn kannte. »Niemand von Bedeutung«, hatte Coverdale auf meine diesbezügliche Frage geantwortet. Der ohrenlose Mann beteiligte sich nicht am Getuschel seiner Kameraden, sondern fixierte mich über ihre Köpfe hinweg mit demselben kühlen, unverschämten Blick wie damals – fast so, als würde er mich kennen. Ich hielt diesem Blick einen Moment lang stand, dann senkte ich

Weitere Kostenlose Bücher