Ketzer
Stelldicheins nutzen könnten. Aber sie finden zweifellos auch andere geeignete Orte, wenn es ihnen gelingt, durch das Haupttor zu entwischen«, fügte er mit einem nachsichtigen Lächeln hinzu.
»Sie dürfen das Universitätsgelände abends nicht verlassen?«, fragte ich. »Das erscheint mir für Männer in der Blüte ihrer Jugend sehr hart.«
»So sollen sie Selbstdisziplin lernen«, gab Mercer zurück. »Doch die meisten finden Mittel und Wege, die Regeln zu umgehen – ich für meinen Teil habe das in diesem Alter jedenfalls getan.« Er kicherte leise. »Der Pförtner, Cobbett, ist ein freundlicher alter Mann, der schon seit vielen Jahren hier ist. Für ein paar Münzen findet er sich allerdings immer bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn die Jungen erst aus der Stadt zurückkommen, nachdem die Tore geschlossen worden sind. Außerdem trinkt Cobbett gern – ich glaube manchmal, er vergisst es dann der Einfachheit halber ganz und gar, das Tor überhaupt abzuschließen.«
»Mahnt ihn der Rektor dafür nicht ab?«
»Der Rektor ist in vielerlei Hinsicht sehr streng, aber er weiß auch, wie man mit einer Gemeinschaft junger Männer umzugehen hat. Eine eiserne Hand ist nicht immer der beste Weg – mitunter empfiehlt es sich eher, einfach wegzusehen. Junge Männer besuchen gern Schänken und Freudenhäuser, ob es uns nun gefällt oder nicht, und je strikter man ihnen das untersagt, umso größer ist die Versuchung.«
»Das hat Doktor Bernard auch über die verbotenen Bücher gesagt«, gab ich nachdenklich zurück.
Mercer warf mir einen Seitenblick zu, als wir vom anderen Ende des Ganges in den offenen Hof hinaustraten, wo die auf der nördlichen Gebäudereihe angebrachte Uhr fast neun Uhr anzeigte.
»Ihr müsst Doktor Bernard seine Schroffheit verzeihen«, sagte er entschuldigend. »Er musste seine Religion drei Mal unter vier verschiedenen Herrschern wechseln. In seiner Jugend war er ein geweihter Priester, bevor der Vater der Königin mit Rom gebrochen hat. Erst in der letzten Zeit jedoch hat er begonnen, seine Meinung immer unverblümter zu äußern, und ich befürchte allmählich, dass es ihm so ergeht wie vielen alten Männern – er versinkt manchmal in seinen Erinnerungen und weiß nicht mehr genau, mit wem er spricht.«
»Er kam mir ziemlich klar im Kopf vor. Aber von einem tiefen Zorn erfüllt.«
»Ja.« Mercer seufzte. »Er ist wütend – auf die Welt, auf die Universität, auf das, was von ihm verlangt worden ist, und auf das, was er getan hat. Und Ihr wundert Euch sicher, warum er auf mich so zornig ist.« Wieder warf er mir einen diesmal fast schüchternen Blick zu.
»Er hat sich ziemlich verbittert über das Exil geäußert.«
»Er bezog sich auf die Probleme, die wir letztes Jahr mit unserem stellvertretenden Rektor Edmund Allen hatten. Ihr habt sicherlich davon gehört. William stand ihm sehr nah, so wie ich auch, doch ich war gezwungen, vor Gericht wegen seiner religiösen Praktiken gegen ihn auszusagen. William betrachtet das als unverzeihlichen Verrat.«
»Und Ihr?«, fragte ich weich.
Mercer ließ ein kurzes, bitteres Lachen hören.
»Oh, ich habe meine Pflicht getan und meine Haut gerettet, und jetzt trage ich die Robe des stellvertretenden Universitätsleiters und bewohne seine begehrte Kammer im Turm. William hat recht. Ich habe einen Freund verraten. Aber ich hatte keine
andere Wahl und er auch nicht. Ihr seht, wie wir hier leben, Bruno?« Er deutete auf die Fenster der Wohnung des Rektors, hinter denen immer noch bernsteinfarbenes Kerzenlicht flackerte. »Es ist ein gutes, behagliches Leben für einen Gelehrten – wir sind in vieler Hinsicht von der Welt abgeschirmt. Und ich … ich bin nur für ein solches Leben geschaffen. Mir fehlt der Ehrgeiz, mich hochzuarbeiten. Hätte ich meinen Freund nicht öffentlich religiöser Perfidie bezichtigt, hätte ich sein Schicksal geteilt und alles verloren. Und zu diesem Zeitpunkt war sein Schicksal ja noch unklar – der Kronrat hatte der Universität zwar gestattet, ihren eigenen Prozess gegen ihn durchzuführen, es war jedoch mehr als wahrscheinlich, dass dem Rat letztendlich die Angelegenheit übertragen werden würde, und dann hätte Edmund eine drastischere Strafe als das Exil zu befürchten gehabt.« Er erschauerte. »Ich bin nicht stolz auf meine Handlungsweise, ganz bestimmt nicht, aber William Bernard hat kein Recht, gegen mich zu hetzen. Als Ihre Majestät den Thron bestiegen und die kurze Versöhnung ihrer Schwester Maria
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