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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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im Garten spazieren zu gehen?«, fragte ich. »Ich meine, könnte jemand gewusst haben, dass er ihn hier finden würde?«

    »Die Fellows nutzen die Stille des Hains oft, um dort zu lesen«, erwiderte der Rektor. »Aber für gewöhnlich nicht um diese Zeit – es ist zu dunkel. Die Studienanfänger stehen um halb sechs auf, um sich für den Gottesdienst um sechs Uhr fertig zu machen, der Besuch des Morgengottesdienstes ist Pflicht. Vorher ist nur selten jemand auf den Beinen, noch nicht einmal die Küchenjungen. Und ich selbst bin noch nie zu einer so frühen Stunde im Garten spazieren gegangen, daher kann ich nicht sagen, ob einer meiner Kollegen diese Gewohnheit hat.«
    Ich beugte mich erneut über Rogers Leichnam und zog die blutige, zerrissene Kleidung zur Seite, um zu sehen, ob irgendetwas an seiner Person seine Anwesenheit im Hain im Morgengrauen hätte erklären können, denn mir fiel seine Bemerkung darüber ein, dass der Garten für Stelldicheins sehr beliebt wäre. Hatte er auf jemanden gewartet, der nie gekommen war, oder auf jemanden, der sich eingefunden und den Tod mit sich gebracht hatte? Er trug kein Buch bei sich, doch eine Wölbung in seinem Wams deutete auf eine verborgene Tasche hin. Ich griff hinein und zog eine prall gefüllte, vor Münzen klirrende Börse heraus.
    »Wenn er einen ruhigen, besinnlichen Spaziergang vor Sonnenaufgang hätte unternehmen wollen, hätte er das hier nicht mitnehmen müssen.« Ich schnürte den Geldbeutel auf und zeigte dem Rektor ihren Inhalt. Den genauen Wert der englischen Münzen kannte ich nicht, aber es waren viele. Bei ihrem Anblick quollen Underhills Augen förmlich aus ihren Höhlen.
    »Guter Gott, das müssen mindestens zehn Pfund sein!«, entfuhr es ihm. »Warum bloß hat er eine so hohe Summe mit sich herumgetragen?«
    »Vielleicht wollte er jemanden treffen, dem er Geld schuldete.«
    »Und dieser Jemand wusste natürlich, dass er hier sein würde, und hat den Hund auf ihn gehetzt.« Die Augen des Rektors wurden groß. »Rache für unbezahlte Schulden – das muss das Motiv sein!«

    Ich schüttelte den Kopf.
    »Warum befindet sich das Geld dann immer noch in seiner Tasche? Wenn sich jemand wegen nicht rechtzeitig bezahlter Schulden an ihm hätte rächen wollen, hätte er doch wohl zuerst seine Börse an sich genommen.«
    »Aber wer könnte überhaupt einen Grund gehabt haben, Roger etwas zuleide zu tun?«, fragte der Rektor verzweifelt.
    »Das weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass ein wilder Hund nicht rein zufällig in einen von einer hohen Mauer umgebenen Garten mit verschlossenen Toren gelangen kann.« Ich strich meine Kleider glatt und bemerkte erst jetzt, dass sie mit Rogers Blut besudelt waren. »Ich nehme an, dass Ihr nach diesem schrecklichen Ereignis die Disputation heute Abend absagen werdet, Rektor Underhill?«
    Erneut flackerte Furcht in den Augen des Rektors auf.
    »Nein«, erwiderte er bestimmt, dabei packte er mich bei den Schultern. »Die Disputation muss wie geplant stattfinden. Wir können nicht zulassen, dass dieser … dieser Zwischenfall den Besuch einer königlichen Abordnung stört – könnt Ihr Euch die Folgen vorstellen, Doktor Bruno? Vor allem, wenn gemunkelt werden würde …«, er blickte sich um, bevor er weitersprach, »… dass er wohl absichtlich herbeigeführt worden ist. Der Ruf der Universität würde Schaden nehmen und mein eigener ebenfalls, und wir hatten hier in der letzten Zeit schon so viele Probleme. Ich fürchte Leicesters Unmut mehr, als ich sagen kann.«
    »Aber ein Mann, ein Senior Fellow, wurde auf grausame Weise getötet – vielleicht sogar ermordet«, empörte ich mich. »Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts geschehen.«
    »Schschtt! Um der Liebe Christi willen, wiederholt das furchtbare Wort Mord nicht, Bruno!« Die Augen des Rektors schossen panikerfüllt hin und her, und er dämpfte die Stimme, obwohl wir noch immer allein waren. »Wir werden verbreiten, dass es sich um ein tragisches Unglück handelt – wir werden
sagen …« Er hielt kurz inne, um sich eine glaubhafte Geschichte zurechtzulegen. »Ja, wir werden sagen, dass das Gartentor versehentlich offen gelassen wurde, ein streunender Hund hereinkam und Roger, der früh aufgestanden war, um im Hain zu beten und zu meditieren, angefallen hat.«
    »Ob man das glauben wird?«
    »Das wird man, wenn ich es sage – ich bin der vom Earl ernannte Rektor«, entgegnete Underhill mit einem Anflug

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