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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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seiner alten Selbstherrlichkeit. »Außerdem war es dunkel und neblig, und niemand konnte etwas deutlich erkennen.« Seine Züge hatten sich verhärtet, ich las darin die eiserne Entschlossenheit, den guten Ruf der Universität um jeden Preis zu schützen, und ich konnte mir jetzt gut vorstellen, dass genau diese Rücksichtslosigkeit ihn während des Prozesses gegen den unseligen Edmund Allen geleitet haben musste.
    »Doch die Tore waren verschlossen!«, protestierte ich.
    »Nur Ihr und ich wissen davon, Bruno. Und wir werden diesen Umstand für uns behalten, wenn Ihr nichts dagegen habt.«
    »Was ist mit dem Pförtner? Wird er sich nicht daran erinnern, die Tore am Abend überprüft zu haben?«
    Der Rektor ließ ein trockenes Lachen hören.
    »Wie ich sehe, kennt Ihr unseren Pförtner nicht. Ein klarer Kopf und ein gutes Gedächtnis zählen nicht zu seinen Stärken. Wenn ich behaupte, ein Tor wurde offen gelassen, kann er auf keinen Fall mit Gewissheit sagen, dass dem nicht so war. Nein, ich denke, das ist der sicherste Weg.«
    Als er meine besorgte Miene bemerkte, drückte er meine Schulter und fügte in einem leichteren Tonfall hinzu: »Wenn jeglicher Verdacht ausgeräumt ist, wird es einfacher sein herauszufinden, was an diesem Morgen wirklich geschehen ist. Aber wenn es eine große Aufregung gibt und in ganz Oxford das Gerücht umgeht, Lincoln sei der Schauplatz eines kaltblütigen Mordes, wird der Täter – wenn es denn einen Täter gibt – in dem Durcheinander unbemerkt verschwinden. Wenn der Gerechtigkeit Genüge getan werden soll, ist es das Beste, diese Tragödie
nicht an die große Glocke zu hängen. Ich wäre Euch für Eure Hilfe in dieser Angelegenheit sehr dankbar, Doktor Bruno.«
    Ich war mir nicht sicher, ob er sich damit auf die Verschleierung der Wahrheit oder ihre Aufdeckung bezogen hatte, aber mir lag es schwer im Magen, dass ich vermutlich der Letzte war, der Roger Mercer lebendig gesehen hatte, und dass derjenige, der sein grausames Ende geplant hatte, jetzt irgendwo in Oxford seine Freiheit genoss, ohne für sein Verbrechen büßen zu müssen. Die kühl kalkulierende Art des Rektors hatte mich zusätzlich schockiert; irgendeine menschliche Reaktion seinerseits auf den grässlichen Tod seines Kollegen schien von der Furcht vor seinem Amtsverlust förmlich verschluckt worden zu sein.
    Der Himmel war fahler geworden, der Nebel löste sich auf und hing nur noch in weißen Fetzen zwischen den Bäumen. Die zwei Leichen im taufeuchten Gras hoben sich dunkel von dem grauen Licht ab. Der Rektor blickte ängstlich auf.
    »Großer Gott, es ist gleich Zeit für den Frühgottesdienst! Ich muss in der Kapelle sprechen, die Gemeinde beruhigen. Die Geschichte wird schon in aller Munde sein.« Er verschränkte die Finger, bis die Knöchel weiß hervortraten, und schien mit sich selbst zu reden. »Erst muss ich allerdings die Küchendiener anweisen, einen Sack für den Kadaver zu bringen, er kann hier nicht liegen bleiben.«
    Ich starrte ihn an, bis ihm mein entsetzter Gesichtsausdruck auffiel.
    »Ich meine den Hund, Bruno. Aber Ihr habt recht, der Coroner muss kommen, bevor Rogers Leichnam fortgeschafft werden kann. Oh, es gibt so viel zu tun! Ich werde Roger bitten müssen …« Im nächsten Moment schlug er die Hände vor den Mund und drehte sich zu dessen Leichnam um, als würde ihm der Verlust seines Stellvertreters erst jetzt wirklich bewusst werden.
    »O Gott«, flüsterte er. »Roger ist tot!«
    »Richtig.« Ich sah ihm an, dass er gerade eben der Wahrheit ins Gesicht blickte.

    »Aber dann – das heißt, dass wir eine neue Versammlung einberufen und einen neuen stellvertretenden Rektor wählen müssten, und dafür ist gegenwärtig wirklich keine Zeit! In der Zwischenzeit brauche ich jedoch eine rechte Hand, und das wird all die üblichen Eifersüchteleien und neiderfüllten Gehässigkeiten nach sich ziehen – was wir im Moment am allerwenigsten brauchen können! Oje, wie konnte das nur passieren?« Er versuchte, sich seine wachsende Besorgnis nicht anmerken zu lassen, als er mich mit ernster Miene ansprach; seine seitlich herumwedelnden Hände wirkten dabei ein wenig hilflos. »Doktor Bruno, ich weiß, es ist ungeheuerlich, einen Gast darum zu bitten, würdet Ihr dennoch beim Leichnam des armen Roger bleiben, bis der Coroner kommt? Ich muss ja in der Kapelle die traurige Nachricht verkünden, und zwar nicht nur möglichst schonend, sondern so, dass ich gleichzeitig etwaigen Gerüchten über die

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