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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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heutigen Vorkommnisse den Nährboden entziehen kann – falls dies überhaupt möglich ist. Haltet die Studenten von hier fern – wir wollen nicht, dass sie sich an diesem Ort versammeln, um ihre makabere Neugier zu befriedigen. Schließlich hat hier keine Bärenhatz stattgefunden!«
    »Natürlich bleibe ich.« Ich hoffte nur, meine unfreiwillige Totenwache würde nicht allzu lange dauern, ich bin zwar nicht abergläubisch, aber Roger Mercers leere, blicklose Augen schienen mich anzuklagen, weil es mir nicht gelungen war, ihm zu helfen. Wir fürchten alle um unser schwaches Fleisch, hatte er am Abend zuvor gesagt. Jetzt hatte er dieser Furcht ins Auge geblickt; ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie er mit gebrochener Stimme Jesus und Maria angefleht hatte, ihn zu retten.
    Der Rektor schlurfte in Richtung des Hofes über das Gras davon, und ich blieb mit den beiden Leichen und meinen sich überschlagenden Gedanken zurück. Während ich versuchte, sie zu ordnen, beugte ich mich erneut über Mercers Leichnam und zog die Überreste seiner zerfetzten Robe über sein verwüstetes Gesicht. Einem Aberglauben zufolge soll sich in den Augen eines Mordopfers das Bild seines Mörders widerspiegeln, aber
als ich ein letztes Mal in Rogers in einem Augenblick des Entsetzens erstarrte Augen schaute, dachte ich nur: Wenn diese Torheit wahr wäre, würde ich dann das Bild eines großen Hundes sehen? Indes, der Umstand, dass alle Tore verschlossen gewesen waren, ging mir nicht aus dem Kopf – der Hund war nicht Rogers wahrer Mörder, sondern nur sein Werkzeug. Ich wandte mich von Roger Mercers Leichnam zu dem des Tieres, um ihn zu untersuchen. Es war eine riesige Bestie, die einem ausgewachsenen Mann bis zur Taille reichte, mit einem langen, schmalen Kopf. Wieder fiel mir auf, wie mager der Hund war, obwohl es nicht so aussah, als wäre er sonst irgendwie misshandelt worden. Wer immer ihn in den Garten gelassen hatte, musste sein Vorgehen sorgfältig geplant und die Angriffslust des Tieres gesteigert haben, indem er es absichtlich hatte hungern lassen. Und Rogers gut gefüllter Geldbeutel – den der Rektor an sich genommen hatte – deutete darauf hin, dass er sich mit jemandem hatte treffen wollen, um irgendeine geschäftliche Transaktion abzuwickeln. Wenn das Geld der Grund für einen so heftigen Streit gewesen sein sollte, dass jemand Roger hatte töten wollen, dann konnte ich jedoch nicht begreifen, warum die Börse zurückgelassen worden war. Anscheinend war es nicht vornehmlich um das Geld, sondern um Mercers Tod gegangen, obwohl es der Schlüssel zu dem vereinbarten Treffen gewesen sein musste.
    Ich überdachte abermals die Lage des Gartens: Auf der Nordseite grenzte er zum Teil an den Küchentrakt, obwohl ich keine von der Küche zum Garten führende Tür sehen konnte. Zu drei Seiten wurde er von einer fast zwölf Fuß hohen Mauer umschlossen, und die vierte Seite schloss sich an die östliche Gebäudekette der Universität an, die auch die Hall und die Wohnräume des Rektors beherbergte. Ich nahm an, dass Roger Mercer den Garten durch einen der Gänge zu beiden Seiten der Hall betreten und das Tor mit seinem eigenen Schlüssel geöffnet hatte. Hatte er dann selbst das Tor hinter sich verschlossen, um nicht gestört zu werden, oder hatte jemand gewartet, bis er im Hain war, und dann das Tor von der Universitätsseite her
geschlossen? Konnte es sich dabei um ein und dieselbe Person gehandelt haben? Eine, die als Erstes das Tor von der Gasse aus geöffnet hatte, um den Hund einzulassen – der vermutlich bis zum letzten Moment einen Maulkorb getragen hatte –, um es anschließend hinter dem Tier zu schließen? Allerdings hätte es etliche Minuten gedauert, durch das Haupttor und um das Gebäude herum zu laufen, und jeder, der das getan hätte, wäre vom Pförtner gesehen worden – vorausgesetzt, dieser war wach gewesen.
    Vom Hof her rief eine Glocke die Studenten zum Gottesdienst, in dem der Rektor seine Ansprache halten und der blühenden Fantasie der jungen Männer einen Dämpfer versetzen würde. Als ich mich erhob, fragte ich mich müßig, ob James Coverdale jetzt sein Ziel erreichen und Rogers Amt übernehmen würde, und dabei traf mich eine Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Der Rektor hatte – rhetorisch – gefragt, wer wohl Roger Mercer etwas hätte zuleide tun wollen, und ich hatte erwidert, dass ich keine Ahnung hätte. Doch jetzt wurde mir klar, dass sogar ich, ein Fremder, der noch keinen

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