Ketzer
selben Moment den Pfeil von der Sehne schnellen ließ. Trotz des Nebels traf der Schuss sein Ziel, und der Hund sank in sich zusammen, als sich die Pfeilspitze in seinen Hals bohrte.
Sowie das Tier sich nicht mehr rührte, ließ Gabriel seinen Bogen fallen, und wir rannten beide zu dem schwarzen Haufen an der Wand neben dem Hund. Es war der Leichnam eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Seine schwarze Robe bauschte sich um ihn, das Gras war zertrampelt und blutgetränkt. Ich half Gabriel, den Mann umzudrehen, und schrie erschrocken auf. Vor mir lag Roger Mercer, den Kopf in einem grässlichen Winkel verdreht, mit blicklos gen Himmel starrenden Augen und zerfetzter Kehle – ein Hautlappen hing herab, rohes Gewebe quoll aus der Wunde. Instinktiv bückte ich mich, um das Blut zu stillen, das noch immer über seinen Hals und seine Brust rann, aber es war zu spät, in seinen starren Augen lag für alle Zeit der Ausdruck nackten Entsetzens. Gabriel Norris sprang von dem blutigen Leichnam zurück und vergewisserte sich, dass er seine Kleider nicht besudelt hatte, als wäre das seine einzige Sorge auf der Welt. Aufgeblasener Pfau, dachte ich angewidert – und dann fiel mir wieder ein, wo ich seinen Namen schon einmal gehört hatte; Mercer hatte ihn am Abend zuvor mit fast denselben Worten bedacht. Ungläubig kauerte ich mich neben der Leiche nieder, ergriff die verstümmelten Hände – zwei Finger waren ihm bei seinem verzweifelten Versuch, das Tier abzuwehren, fast abgebissen worden, und der Hund hatte ihm große Stücke Fleisch aus Beinen und Knöcheln gerissen, als er ihn zu Boden gezerrt hatte.
Der Rektor kam zögernd mit einem vor den Mund gepressten Taschentuch näher.
»Ist er …«
»Wir sind zu spät gekommen. Gott sei seiner Seele gnädig«, sagte ich mehr aus Gewohnheit als aus Frömmigkeit. Der Rektor trat nahe genug heran, um den Leichnam des Mannes identifizieren zu können, der noch am Abend zuvor beim Essen zu
seiner Rechten gesessen hatte, und wurde prompt von Übelkeit überwältigt. Der junge Mann namens Gabriel schien sich dagegen wieder erholt zu haben und stieß den toten Hund mit einem Zeh an.
»Ein riesiges Tier«, stellte er fast stolzerfüllt fest, als handele es sich um eine Jagdtrophäe. Als ich genauer hinsah, kam mir eine Erkenntnis: Jagd war das richtige Bild.
»Das ist ein Jagdhund.« Ich kniete neben dem Tier nieder. »Und seht, hier …« Ich deutete auf die sich unter dem drahtigen grauen Fell abzeichnenden Rippen. »Schaut, wie mager er ist. Er sieht aus, als wäre er halb verhungert. Und betrachtet sein Bein.« Um den oberen Teil des linken Hinterlaufs des Hundes verlief ein Ring rohen Fleisches. Die Haut war brutal von einem Strick oder etwas Ähnlichem aufgeschürft worden. Das Fell rings um die Wunde war teilweise ausgerissen, als habe der Hund wiederholt versucht, seine Fessel mit den Zähnen durchzunagen. »Er war angekettet, denke ich – seht Ihr? Kein Wunder, dass er sich so rasend gebärdet hat.«
»Aber was hatte er im Garten zu suchen?« Der junge Mann sah mich erwartungsvoll an. »Und was tat Doktor Mercer hier mit einem Hund?«
»Vielleicht wollte er seinen Hund ausführen, und er hat ihn plötzlich angefallen – Hunde sind manchmal unberechenbar«, schlug ich vor, von meiner eigenen Hypothese wenig überzeugt.
»Aber Roger hatte gar keinen Hund«, widersprach der Rektor mit matter Stimme, dabei wischte er sich den Mund mit seinem Taschentuch ab. »Ich sagte doch schon – niemandem außer dem Pförtner ist es gestattet, ein Tier zu halten. Nein – nein, Gentlemen, hier gibt es nichts zu sehen!«, bellte er plötzlich, als sich die Studenten durch das Tor drängen wollten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. »Zurück in eure Unterkünfte, alle miteinander! Der Gottesdienst findet wie immer um sechs Uhr statt – zurück in eure Kammern und macht euch fertig. Ich bitte mir Pünktlichkeit aus!«
Die Studenten machten widerwillig kehrt, schlurften durch
das Tor, blickten verstohlen über ihre Schultern und tuschelten aufgeregt miteinander. Der Rektor wandte sich an den jungen Mann, der den Leichnam nachdenklich betrachtete. Der Köcher baumelte immer noch von seiner Schulter. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über Underhills Gesicht, als sehe er sein Gegenüber zum ersten Mal.
»Gabriel Norris!«, explodierte er, dabei fuchtelte er mit einer Hand durch die Luft. »Was in Gottes Namen tragt Ihr da?«
Norris
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