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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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ganzen Tag an der Universität weilte, bereits zwei Leuten begegnet war, die ihn offensichtlich gehasst hatten. Könnten es noch mehr sein? Vielleicht hatte jemand versucht, Geld von ihm zu erpressen und dann beschlossen, ihn stattdessen zu töten. Mir war er ziemlich sympathisch gewesen, wie es schien, hatte er sich jedoch mit seiner Rolle beim Prozess gegen den unglücklichen Edmund Allen nicht gerade beliebt gemacht. Wer könnte schon sagen, wie viele andere Feinde er sich geschaffen haben mochte? Trotzdem musste der Groll gegen ihn lange im Verborgenen gehegt worden sein. Warum hätte der Täter sonst bis zum Besuch einer königlichen Abordnung gewartet, um zuzuschlagen? Es sei denn …
    Der Anblick einer Gestalt, die von der Universität her zwischen den Bäumen hindurch auf mich zukam, riss mich aus meinen Gedanken. In der Hoffnung, der Coroner möge endlich eingetroffen sein, um mich von meiner Wachpflicht zu entbinden,
trat ich einen Schritt vor und erkannte zu meiner Überraschung Sophia Underhill. Sie trug ein dünnes blaues Gewand und einen Schal um die Schultern, und ihr Haar wehte hinter ihr her. Ein paar Schritte von mir entfernt blieb sie stehen. Sie wirkte gleichfalls überrascht, mich hier vorzufinden.
    »Doktor Bruno! Was … was tut Ihr hier?«
    »Ich warte auf Euren Vater.« Ich baute mich vor ihr auf, um ihr den Blick auf die beiden Leichen zu versperren.
    »Es heißt, Gabriel Norris hätte einen Eindringling niedergeschossen.« Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Ist er noch hier?« Ihre Augen funkelten erwartungshungrig, als sie sich ungeniert nach allen Seiten umblickte, aber ich bemerkte, dass sie die Hände genauso nervös miteinander verflocht wie ihr Vater.
    »Nicht ganz.« Beinahe hätte ich gelächelt – trotz der Bemühungen des Rektors hatte es den Anschein, dass die Geschichte bereits blumig ausgeschmückt würde. »Habt Ihr noch nicht mit Eurem Vater gesprochen?«
    »Er ist beim Morgengebet in der Kapelle – ich hörte die Neuigkeiten von zwei Studenten, die sich verspätet hatten.« Sie spähte an mir vorbei zu den beiden im dichten Gras liegenden Schatten. »Natürlich haben wir alle den Lärm vor unseren Fenstern gehört, ich hätte hingegen nie gedacht – ist das dort der Leichnam des Diebes?« Sie schien darauf zu brennen, ihn eingehender zu betrachten. Ich vertrat ihr energisch den Weg.
    »Bitte tretet zurück, Mistress Underhill. Das ist kein Anblick für Euch.«
    Sie neigte den Kopf zur Seite und starrte mich herausfordernd an.
    »Ich bin dem Tod schon begegnet, Doktor Bruno. Ich habe meinen Bruder mit gebrochenem Hals gesehen, also behandelt mich nicht wie eine dieser verhätschelten Ladies, die ihren Fuß nie aus ihrem Salon herausgesetzt haben.«
    »Das würde mir nicht im Traum einfallen, aber dies hier ist weitaus schlimmer.« Absurderweise streckte ich die Arme aus,
als könnte ich ihr so die Sicht versperren. »Nun ja, nicht schlimmer als der Tod eines Bruders, das meinte ich damit natürlich nicht, sondern ich wollte damit sagen … es ist viel Blut geflossen, und das sollte sich eine Frau nicht ansehen müssen. Bitte vertraut mir, Mistress Underhill.«
    Sie schnaubte nur und stemmte erbost die Hände in die Hüften.
    »Wie kommt es nur, dass Männer immer denken, Frauen könnten kein Blut sehen? Habt Ihr vergessen, dass wir jeden Monat bluten? Wir bringen unsere Kinder in einem Schwall von Blut und Schleim zur Welt – glaubt Ihr, wir schließen dabei die Augen, um nicht in Ohnmacht zu fallen? Ich versichere Euch eines, Doktor Bruno: Jede Frau kann den Anblick von Blut besser ertragen als ein altgedienter Soldat, auch wenn die Männer sich einbilden, uns wie venezianisches Glas behandeln zu müssen! Ich hoffe, Ihr gehört nicht auch zu denen, die mich am liebsten in Watte hüllen und einsperren wollten, um die wirkliche Welt von mir fernzuhalten!«
    Die Heftigkeit, mit der sie argumentierte, setzte mich in Erstaunen, und insgeheim musste ich ihr recht geben, aber mir war die Aufgabe übertragen worden, Roger Mercer vor neugierigen Blicken zu schützen, also trat ich erneut vor, bis ich direkt vor ihr stand. Zu meinem Missvergnügen stellte ich fest, dass sie fast genauso groß war wie ich.
    »Auf diese Idee käme ich nie. Trotzdem muss ich Euch bitten, nicht näher zu kommen, Mistress Underhill – der Leichnam ist grausam verstümmelt. Ich fürchte, der Anblick würde Euch zusetzen, egal wie stark Ihr seid.«
    Sie funkelte mich noch einen Moment

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