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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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Manchmal denke ich, er glaubt nur deshalb so felsenfest daran, weil er es seit jeher geglaubt hat und es einfacher ist, an seinen Überzeugungen festzuhalten.« Sie biss in ihren Daumenknöchel. »Ich sähe es gar zu gern, wenn jemand seine Selbstsicherheit ins Wanken brächte und ihn dazu bringen würde, gewisse Dinge zu hinterfragen. Wenn er akzeptieren könnte, dass man die Weltordnung auch ändern kann, würde er vielleicht begreifen, dass nicht alles immer so bleiben muss, wie es ist. Deswegen möchte ich unbedingt, dass Ihr gewinnt, Doktor Bruno.« Bei den letzten Worten fasste sie sogar mein Hemd und schüttelte mich ein wenig. Ich nickte stumm.
    »Ihr meint, wenn man ihn überzeugen könnte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, gelänge es auch, ihn davon zu überzeugen, dass eine Tochter das gleiche Recht auf ein Studium hat wie ein Sohn und ihren Mann selbst auswählen sollte?«
    Sie errötete leicht.

    »Etwas in dieser Art. Anscheinend seid Ihr wirklich so klug, wie man sagt, Doktor Bruno.«
    »Bitte nennt mich Giordano.«
    Sie bewegte lautlos die Lippen, dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich nicht aussprechen, meine Zunge würde sich verknoten. Ich werde Euch einfach Bruno nennen. Gewinnt die Disputation für mich, Bruno. Ihr seid bei diesem Schlagabtausch meine Faust.« Hiernach schaute sie über meine Schulter hinweg auf das blutgetränkte Gras, und augenblicklich erstarb ihr Lächeln. »Armer Doktor Mercer. Ich kann es immer noch nicht fassen.«
    Mit schwer zu lesender Miene warf sie den beiden toten Leibern unter den Bäumen einen letzten ausgiebigen Blick zu, sodann wandte sie sich ab und rannte leichtfüßig über das Gras auf die Universität zu. Währenddessen trat einer der vierschrötigen Männer geradewegs auf mich zu und hielt einen großen Sack in die Höhe.
    »So, Kumpel – wo is’n nu der Köter, der begraben werden soll?«

5
    Nachdem die Ankunft des Coroners in Begleitung von Doktor James Coverdale – der bei dem Abtransport der sterblichen Überreste seines Rivalen seine Selbstgefälligkeit kaum verbergen konnte – mich von meiner Totenwache erlöst hatte, verließ ich dankbar den Hain und eilte durch den Gang in den Haupthof. Der Gottesdienst war vorbei, und die Studienanfänger standen eifrig diskutierend in Gruppen beieinander. Die meisten schienen es aufregend zu finden, sich in unmittelbarer Nähe des Schauplatzes eines solchen Unglücks aufzuhalten, obwohl sie die Hände vor den Mund schlugen und ihre Augen vor Entsetzen geweitet waren.
    Es war erst sieben Uhr morgens, aber jetzt machte es sich bemerkbar, dass ich die halbe Nacht wach gewesen war; ich sehnte mich nur noch danach, mich in meine Kammer zurückzuziehen, meine Kleider zu wechseln und noch ein wenig zu schlafen, bevor ich mich auf die abendliche Disputation vorbereitete – ein Ereignis, das für mich jetzt jeglichen Reiz verloren hatte. Meine Hose und mein Hemd starrten vor Rogers Blut, was Coverdale zu einer anzüglichen Bemerkung veranlasst hatte, als ich ihn mit dem Coroner allein ließ. »Ihr solltet besser saubere Kleider anziehen, Doktor Bruno«, hatte er mit unangebrachter Leichtigkeit gesagt, »sonst könnten die Leute noch denken, Ihr wärt der Mörder.«
    Ich vermutete, dass es ihn verdrossen hatte, mich bereits am Ort des Geschehens vorzufinden, deshalb hatte er mich mit
einem dummen Scherz auf meine Nutzlosigkeit hinweisen wollen. Als ich mich jedoch wenig später in dem wie ein Bienenkorb summenden Hof umblickte, fragte ich mich, warum er – wenn auch nur im Scherz – das Wort Mörder gebraucht hatte, wo doch offiziell bekannt gegeben worden war, dass es sich bei Rogers Tod um einen tragischen Unfall handelte? Vielleicht maß ich ja diesem Umstand zu viel Bedeutung bei, bezüglich meiner Kleider hatte er allemal recht. Ich betrachtete meine Hose und zupfte am Stoff herum, um das Ausmaß des Schadens zu begutachten. Dabei ertastete ich etwas in der Tasche und merkte, dass ich noch immer die Schlüssel bei mir trug, die ich Rogers Leichnam abgenommen hatte; ich musste sie unbewusst eingesteckt haben.
    Ich drehte die Schlüssel in den Händen. Der kleinere müsste in das Schloss von Rogers Kammertür passen, denn er glich dem, den man mir für meine eigene Gästekammer ausgehändigt hatte. Wieder schaute ich mich im Hof um. Die Studenten begannen sich mit Büchern in den Händen zu zerstreuen; einige steuerten auf die Bibliothek zu, andere auf das Haupttor. Niemand schenkte mir

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