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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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fest, dass dieses Symbol in regelmäßigen Abständen auftauchte, mehr oder weniger alle zehn Tage, jedoch nie am selben Wochentag. Es könnte sich um einen Code handeln, aber ich hatte keine Möglichkeit,
ihn zu entziffern. Das J sah mir immerhin nach einem konkreten Hinweis aus.
    Mir war jedoch noch etwas anderes aufgefallen, als ich mir das Buch unter die Nase gehalten hatte: ein leichter Orangenduft. Zuerst dachte ich, er käme von meinen Fingern, da ich ja die Schale vom Boden aufgehoben hatte, aber nachdem ich eingehender geschnuppert hatte, wurde mir definitiv klar, dass der Duft vom Almanach selbst herrührte. Vielleicht war das nicht ungewöhnlich, denn falls Roger gern Orangen gegessen hatte, hätte er bestimmt Saft auf die Seiten seiner Bücher gespritzt; er war nicht mit den besten Tischmanieren gesegnet gewesen, wie mir am Abend zuvor aufgefallen war. Doch irgendetwas nagte an mir und gab sich nicht damit zufrieden, was mich erneut an dem Buch schnuppern ließ – und plötzlich verwünschte ich mich für meine Begriffsstutzigkeit.
    Genau in diesem Moment knarrte die Kleiderschranktür vernehmlich, was mich vor Schreck fast von meinen Beinen riss. Instinktiv verbarg ich das Buch in meinem in die Hose gestopften Hemd und fuhr herum – die Tür schien sich unter ihrem eigenen Gewicht bewegt zu haben. Als ich sie ganz öffnete, kamen zunächst nur halb aus dem Schrank gerissene Kleiderhaufen zum Vorschein, dahinter machte ich dann aber einen gedrungenen dunklen, mit einer alten Decke verhüllten Umriss aus. Ich griff in den Schrank. Sobald der Überzug weggezerrt war, offenbarte er eine kleine Holzkiste mit Eisenbändern und fest verschlossen mit einem robusten Vorhängeschloss. Vorsichtig zog ich den Gegenstand ins Licht, dabei entglitt er mir allerdings auf der Kante des Schranks, er kippte um und landete krachend auf dem Boden. Mir stockte der Atem, während ich zum wiederholten Male angestrengt darauf lauschte, ob der Lärm mich verraten hätte, aber alles blieb still. Als die kleine Truhe zu Boden gefallen war, hatte ich das unverkennbare Klirren von Münzen gehört. Dies war also Roger Mercers Schatztruhe, vermutlich bis oben hin mit Gold gefüllt. Er hatte sich keine große Mühe gegeben, sie zu verstecken, und doch hatte
derjenige, der vor mir hier das Unterste zuoberst gekehrt hatte, sie nicht angerührt.
    Dieser Umstand passte zu der nicht angerührten Geldbörse in Rogers Tasche – wer auch immer ihn getötet hatte, war an Geld nicht interessiert gewesen. Doch warum denn sonst sollte man einen Mann ermorden, wenn nicht um des Geldes willen? Entweder aus Rache, dachte ich, oder aus Furcht, das Opfer könne ihm irgendwie schaden. Ich beschloss, Cobbett, den Pförtner aufzusuchen und zu sehen, was er mir über das Tor-und Schließsystem der Universität erzählen könnte – derjenige, der diesen Raum auf den Kopf gestellt hatte, hatte sich ja offenbar mit einem Schlüssel selbst hereingelassen und dann hinter sich abgeschlossen.
    Während ich neben der Truhe kauerte und über die Sache mit den Schlüsseln nachgrübelte, hörte ich, wie hinter mir behutsam die Tür aufgesperrt wurde. Eine eisige Hand schloss sich um mein Herz. Mir blieb keine Zeit mehr, mir ein Versteck zu suchen, ich konnte nur hilflos zusehen, wie die Tür gerade so weit aufgeschoben wurde, dass sich die hagere Gestalt des Quästors Walter Slythurst hindurchzwängen konnte. Ich verfolgte, wie sein Blick langsam und ungläubig über das Chaos im Raum hinwegschweifte, bevor er an mir hängen blieb. Eine kurze Pause trat ein, während der sein Verstand sich bemühte, das zu glauben, was seine Augen ihm sagten, dann stieß er einen leisen Schrei aus und starrte mich an, als wäre ich ein Trugbild.
    »Allmächtiger Gott!«, entfuhr es ihm. »Ihr! Was zum Teufel …«
    Ich würde meine gesamte Erfindungsgabe aufbieten müssen, um zu erklären, warum ich mich in der kürzlich verwüsteten Kammer eines soeben verstorbenen Mannes aufhielt und seine Schatztruhe auf meinem blutbesudelten Schoß hielt. Also holte ich tief Luft und täuschte Nonchalance vor.
    »Buongiorno , Master Slythurst.«
    Slythursts knochiges Gesicht war wie dafür geschaffen, höhnischen Zynismus widerzuspiegeln und keinen rasenden Zorn,
doch in diesem Moment schien ihn die Wut so stark in der Kehle zu würgen, dass er kaum sprechen konnte.
    »Was …«, begann er, bevor sein angehaltener Atem zischend seinen Lungen entwich und er neu ansetzen musste. »Was hat

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