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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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wir uns alle unter unserer Bettdecke verkriechen und so tun würden, als ginge die Sonne nicht mehr auf und unter, dann würde die Familie zerbrechen. Was wisst Ihr überhaupt über den Tod meines Bruders?«
    »Euer Vater machte gestern eine kurze Andeutung. Es muss unerträglich für Euch gewesen sein.«
    »Einen Bruder zu verlieren ist immer unerträglich«, versetzte sie etwas milder gestimmt. »Für mich war es jedenfalls besonders schlimm. Zu Johns Lebzeiten genoss ich für ein Mädchen ungewöhnliche Freiheiten, weil er sich für mich einsetzte und darauf bestand, dass ich in jeder Hinsicht genauso behandelt werden sollte wie er. Ohne seinen Beistand bin ich nun gezwungen, mich wie eine Lady zu benehmen, und ich muss gestehen, dass mir das ganz und gar nicht gefällt.«
    Zu meiner Erleichterung lachte sie unvermutet auf, ihr Lachen verstummte jedoch nach und nach, und schließlich zupfte sie völlig still und geistesabwesend an ein paar Grashalmen herum.
    »Ich nehme an, Eure Disputation wird jetzt verschoben werden?«, erkundigte sie sich, dabei deutete sie vage auf Rogers Leichnam, als interessiere sie das im Grunde nicht sonderlich.
    »Nein – Euer Vater möchte seinen königlichen Gast auf keinen Fall enttäuschen. Alles wird so ablaufen wie geplant, sagt er.«
    Ihr Gesicht verdunkelte sich vor Zorn – ihr Temperament schlug sichtlich so schnell um wie das Wetter über dem Vesuv –, sie sprang auf und strich ihr Kleid mit raschen Gesten glatt.

    »Das hätte ich mir denken können. Auch wenn ein Mensch auf furchtbare Weise hat sterben müssen – nichts darf den geregelten Universitätsalltag stören! Wir müssen alle so tun, als wäre alles in schönster Ordnung.« Ihre Augen loderten vor Wut. »Wisst Ihr, dass mein Vater nach dem Tod meines Bruders John nicht eine Träne vergossen hat? Keine einzige. Als man ihm die Nachricht brachte, nickte er nur und sagte dann, er sei in seinem Arbeitszimmer und wolle nicht gestört werden. Für den Rest dieses Tages kam er nicht mehr heraus – er hat gearbeitet !« Sie spie das letzte Wort förmlich aus.
    »Ich habe gehört«, meinte ich zögernd, »dass viele Engländer ihre Gefühle oft hinter einer Maske verbergen würden, möglicherweise, weil sie Angst vor ihnen haben.«
    Sophia winkte verächtlich ab.
    »Meine Mutter verkriecht sich in ihrem Bett, mein Vater in seinem Arbeitszimmer. Ich bin sicher, dass sie darüber schon fast vergessen haben, dass sie einen Sohn hatten. Nur leider erinnert sie meine Anwesenheit immer wieder daran.«
    »Ich bin sicher, dass das nicht der Fall ist…«, begann ich, doch sie wandte sich ab und presste die Lippen zusammen. »Woran arbeitet Euer Vater denn?«, fragte ich endlich, um das Schweigen zu brechen.
    »Er schreibt einen Kommentar zu Master Foxes Actes and Monuments «, entgegnete sie angewidert.
    »Ah ja – das Buch über die Märtyrer.« Ich erinnerte mich, dass jemand beim Abendessen von den ewigen Predigten des Rektors über dieses Thema gesprochen hatte. »Benötigt es denn einen Kommentar? Foxe schreibt schon weitschweifig genug, finde ich.«
    »Mein Vater ist der festen Überzeugung, dass nichts auf der Welt so wichtig ist wie dieser Kommentar – abgesehen vielleicht von den ewigen Versammlungen des Universitätsvorstandes, die nur ein Vorwand für Tratsch und Verleumdungen sind.« Sie riss mit überraschender Heftigkeit ein paar Blätter von dem Zweig über ihr, dann hob sie den Kopf und sah mich an. »Diese Männer
gelten als die klügsten Köpfe Englands, Doktor Bruno, aber in Bezug auf bösartigen Klatsch sind sie schlimmer als Waschweiber.«
    »Ich habe genügend Universitäten besucht, um das zu wissen«, lächelte ich.
    Sie machte Anstalten, noch mehr zu sagen, doch da war vom Hof her ein Geräusch zu vernehmen, und zwei stämmige Männer in Küchenschürzen näherten sich uns.
    »Ich gehe jetzt besser.« Sophia spähte noch einmal furchterfüllt in die Richtung der beiden Leichen. »Es tut mir leid, dass ich der Disputation nicht beiwohnen kann, Doktor Bruno. Es ist mir nicht gestattet, ich hätte allerdings nur zu gern mit angesehen, wie Ihr meinen Vater bei einem Streitgespräch ausstecht.«
    Ich hob in gespielter Überraschung eine Braue, was ihr ein trauriges Lächeln entlockte.
    »Ihr haltet mich für illoyal. Vielleicht bin ich das auch, aber mein Vater hat derart festgelegte Vorstellungen von der Welt, ihrer vorbestimmten Ordnung und dem Platz eines jeden Menschen in dieser Ordnung.

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