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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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Beachtung. Erneut betrachtete ich Rogers Schlüssel. Ob sich in seiner Kammer Hinweise darauf finden ließen, wen er im Garten hatte treffen wollen und warum er so viel Geld bei sich gehabt hatte? Ich könnte mich kurz dort umsehen, während die Studenten anderweitig beschäftigt waren, die Schlüssel später zurückgeben und – wahrheitsgemäß – behaupten, sie versehentlich eingesteckt zu haben.
    Roger Mercer hatte gesagt, er bewohne die Turmkammer über dem Haupteingang. Ich blickte zu den hohen bogenförmigen Fenstern empor, kam zu dem Schluss, dass dies der richtige Raum sein müsste, und trat dann entschlossen in den Schatten des Treppenhauses der westlichen Gebäudekette, das meiner Meinung nach zum Turm emporführte.
    Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich vor einer niedrigen Holztür stehen, an der ein bemaltes Schild mit der Aufschrift Doktor R. Mercer, stellvertretender Rektor prangte. Nach einem
raschen Blick nach allen Seiten schob ich den Schlüssel ins Schloss. Er ließ sich mühelos drehen, und ich huschte geräuschlos in den Raum, den Roger erst vor etwa zwei Stunden verlassen hatte, ohne zu ahnen, dass er nicht mehr zurückkehren würde. Einen Moment lang meinte ich, über mir Schritte davoneilen zu hören. Ich erstarrte und spitzte die Ohren, doch keine Tür wurde geöffnet oder geschlossen, und ich vernahm auch kein weiteres Geräusch.
    Mit dem Anblick, der sich mir bot, als ich die Tür behutsam hinter mir schloss, hatte ich nicht gerechnet. Im Raum herrschte totales Chaos: Bücher, Dokumente und Karten waren aus den Regalen gerissen und auf dem Boden verstreut, Kleider aus Truhen gezerrt und achtlos fallen gelassen worden. Ein dicker Läufer, der den Holzfußboden bedeckt haben musste, war zusammengerollt und zur Seite geschleift worden, und Spuren im Staub deuteten darauf hin, dass jemand versucht hatte, eine Bodendiele zu lockern. Entweder war Roger gleich im Anschluss an die Suche nach irgendeinem verloren gegangenen Gegenstand in großer Eile aufgebrochen, oder – was ich eigentlich für viel wahrscheinlicher hielt – noch ein Dritter hatte bereits vor mir hier nach Hinweisen für den Grund von Mercers Tod gesucht.
    Der Raum war lang gezogen, hatte eine hohe Decke, und die schmalen, in Blei gefassten Fenster gingen zu einer Seite auf den Hof und zur anderen auf die Straße hinaus. Zur Straßenseite hin befand sich ein großer Kamin, ihm gegenüber stand ein mächtiger Schreibtisch aus Eichenholz mit kunstvoll geschnitzten Beinen. Am anderen Ende des Raumes führten drei Stufen zu einer weiteren, offen stehenden Tür. Meine Handflächen wurden feucht, als ich den Atem anhielt, um auf andere Geräusche als das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren zu lauschen. Vielleicht hatte ich ja die Schritte gar nicht aus dem Stockwerk über mir gehört, sondern außer mir befand sich derzeit noch jemand im Raum. Mich so behutsam wie eine Katze bewegend packte ich das Nächstbeste, das sich als Waffe benutzen ließe – einen eisernen Schürhaken –, umklammerte ihn mit
beiden Händen, nahm all meinen Mut zusammen und schlich auf die offene Tür zu. Mit erhobenem Schürhaken betrat ich die kleine Kammer innerhalb des eigentlichen Turmes, die nur ein einfaches Rollbett, einen Waschtisch und einen schweren Eichenschrank mit geschnitzten Türfüllungen enthielt.
    Auch diese Schlafkammer hatte der Eindringling bei seiner Suche nicht ausgelassen: Die Laken waren vom Bett gezogen. Ein irdener Krug war vom Waschtisch gestoßen worden und zerbrochen, sodass in den Binsen, die den Boden bedeckten, ein feuchter Fleck zu sehen war. Bei näherer Betrachtung entdeckte ich, dass sogar die Strohmatratze mit einem Messer aufgeschlitzt worden und der Inhalt herausgequollen war. In einer der Ecken dieser quadratischen Kammer befand sich eine kleine, in die Wand eingelassene Holztür. Ich versuchte, den Knauf zu drehen, er ließ sich jedoch nicht bewegen. Als ich gegen das Holz klopfte, ertönte ein hohles Geräusch. Aufgrund des Echos und des Luftzugs, der durch die Ritzen wehte, mutmaßte ich, dass sich hinter dieser Tür das Treppenhaus zum obersten Geschoss des Turmes befand. Ich packte den Schürhaken fester, spähte außerdem sicherheitshalber hinter die schweren Vorhänge und unter das Bett, aber auch dort hielt sich niemand versteckt. Beruhigt kehrte ich über die drei Stufen nach unten in den großen Raum zurück, um nun dort alles genau zu untersuchen.
    Wo sollte man in diesem Chaos beginnen? Der Raum

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