KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
an und legte dann ihre Bürste auf die Ablage.
»Nein, ich möchte gern hingehen«, antwortete sie mit fester Stimme. Sie verstand Ethans Sorge, fand sie sogar liebenswert, aber ihr Frust wurde von Tag zu Tag größer.
Zweifelnd sah er sie an, widersprach jedoch nicht. »Na gut, aber du musst mir versprechen, dass du es mir sofort sagst, wenn es dir zu viel wird.«
Lächelnd nickte sie. »Abgemacht. Aber Ethan, ich kann mich nicht ewig in den eigenen vier Wänden verschanzen.«
Die Decke fiel ihr allmählich auf den Kopf, und was sie ihm nicht sagte: Wenn sie hier nicht bald rauskam, wurde sie tatsächlich noch so verrückt werden, wie die anderen sie wahrscheinlich längst einschätzten.
Marlene hatte eine Willkommensparty geplant, aber aus Ethans gegrummelten Bemerkungen schloss Rachel, dass das Ganze weit über ein einfaches Familientreffen hinausgehen würde. In ihren trübsinnigen Momenten dachte Rachel, dass es eigentlich eine »Willkommen zurück aus dem Reich der Toten«-Party sein müsste.
Sie fand es immer noch verwirrend, dass jeder sie das ganze letzte Jahr lang für tot gehalten hatte. Aber das war in vielerlei Hinsicht wohl der angenehmere Gedanke gewesen. Sie trauerten. Sie kamen über den Verlust hinweg. Hätten sie gewusst, dass sie noch am Leben und in Gefangenschaft war, dann hätten sie gelitten. So, wie sie gelitten hatte.
Als sie die Bürste wieder aufnehmen wollte, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie Mühe hatte, sie nicht fallen zu lassen. Die Sucht machte sich zu den merkwürdigsten Zeiten bemerkbar. Manchmal vergaß sie das Gift, das mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks durch ihre Adern geflossen war, tagelang. Dann wieder gierte sie nach der Droge mehr als nach dem nächsten Atemzug. Aber das würde sie Ethan nie erzählen. Wie könnte sie? Er machte sich so schon genug Sorgen um sie. Da brauchte sie ihm nicht auch noch neue aufzubürden.
Starke Hände legten sich auf ihre nackten Schultern und drückten sie. Sie schaute in den Spiegel. Er stand hinter ihr. In seiner Berührung lag eine solche Wärme. Seinen Trost brauchte sie so sehr wie früher die Drogen.
Seufzend lehnte sie sich an ihn und hob den Blick. Seine Finger strichen über ihren Nacken, den Hals entlang zu den Wangenknochen. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. Einmal. Kurz und sanft.
Als er sich wieder zurückzog, seufzte sie unwillig. Er runzelte die Stirn.
»Stimmt was nicht?«
Sie drehte sich um und legte den Kopf in den Nacken.
»Küss mich, Ethan. Richtig. Ich halte es nicht mehr aus. Ich möchte mich endlich wie eine Ehefrau fühlen, nicht wie irgendeine Betrügerin, an der du zweifelst. Seit dem Tag, an dem wir schwimmen waren, hast du mich nicht mehr geküsst.«
Sie legte ihm die Hände auf die Brust und verlieh ihren Worten mit einem festen Schubs Nachdruck. Er nahm ihre Hände und legte sie sich aufs Herz.
»Mein Gott, Rachel, das will ich auch. So sehr, dass es wehtut. Aber ich habe Angst. Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Ich habe Angst, dich zu verschrecken, nur weil ich dich berühren möchte wie sonst nichts auf der Welt.«
Sie begann zu zittern, aber nicht aus Furcht. Ein seltsames Gefühl schoss ihr durch Mark und Bein und hinterließ eine wohlige Wärme. Ihre Muskeln spannten sich an, und ihre Brustwarzen stellten sich auf. Ihr wurde klar, dass sie Lust empfand, und beinahe hätte sie laut losgelacht.
Sie hatte ganz vergessen, wie sich so etwas anfühlte, die Vorfreude auf die zärtliche Berührung ihres Mannes. Es war lange her, dass ein einfacher Blick ihren Puls beschleunigt hatte. Sie vermisste das. Gott, wie sie das vermisste.
Dieses Verlangen trieb sie um, seit sie ihn an jenem Morgen wach geküsst hatte. Schon damals hatte die Erkenntnis sie aufgewühlt, aber jetzt war das Gefühl so intensiv, dass sie fürchtete, den Verstand zu verlieren, wenn ihre Sehnsucht nicht befriedigt wurde.
»Küss mich«, flehte sie ihn an, leise, fast unhörbar.
Stöhnend zog er sie an sich, bis ihre Brust an seiner ruhte. Seine Hände – er hatte so wundervolle, kräftige Hände – glitten über ihre Arme, weiter zum Hals und umfassten schließlich ihr Gesicht. Dann senkte er den Mund auf ihren. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, hörte sie ihn hastig einatmen und den Atem anhalten.
Sein Kuss jagte heiße Schockwellen durch ihren Körper. Das schönste Gefühl, das sie ihrer äußerst lückenhaften Erinnerung nach je verspürt hatte. War es immer so
Weitere Kostenlose Bücher