KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
verschlechternde Verfassung noch irgendwie in den Griff zu bekommen.
Sean klopfte Ethan auf die Schulter und ging dann zu Sam und Garrett, die in der Tür zum Wohnzimmer standen. Ethan drehte sich kurz um und sah, dass Sean seine Brüder hinauskomplimentierte. Dann waren er und Rachel allein.
Etwas in ihrem Blick hielt ihn davon ab, sich zu ihr zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. In ihren Augen lag etwas Düsteres, Unheilverkündendes, und zum ersten Mal, seit sie wieder hier war, verspürte er echte, fast greifbare Angst – auch wenn ihm nicht ganz klar war wovor.
Oh ja, es gab viele Dinge, vor denen er Angst hatte. Aber die waren konkret. Er hatte eine Heidenangst, sie könnte sich erinnern, was für ein Arschloch er gewesen war, dass er die Scheidung von ihr verlangt hatte, welch grausame Vorwürfe er ihr gemacht hatte und dass er alles getan hatte, um sie aus dem Haus zu vertreiben.
Aber dies hier war etwas anderes, und diese Angst lähmte ihn.
»Rachel.« Er krächzte nur, musste sich räuspern und schämte sich, dass er nicht mehr Stärke bewies. Für sie.
»Sean sagt, ich solle mehr Rückhalt bei meiner Familie suchen«, sagte sie und überraschte ihn damit völlig. »Ich solle mich nicht schämen, um Hilfe zu bitten oder zuzugeben, wenn es mir schlecht geht.«
Ethan setzte sich neben sie, traute sich aber immer noch nicht, sie zu berühren. Sie wirkte so zutiefst verletzt. War ihr wieder etwas eingefallen? Über ihre Ehe? Was er für ein Schwein gewesen war?
Sie lächelte zaghaft. »Ich habe ihm gesagt, er solle mich verhaften.«
Ethan versteifte sich am ganzen Körper. »Wie bitte?«
»Nach der Therapiestunde war ich am Boden zerstört«, sagte sie kaum hörbar. »Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Na ja, eigentlich schon, aber das war dumm und unrealistisch. Ich hatte mir gewünscht, sie würde einen Zauberstab schwingen und mich gesund machen. Ich kam mir so hilflos vor. Und ich war wütend. Mein Gott, ich war so schrecklich wütend. Ich dachte, der Zorn würde mich zerreißen. Und dann bin ich gegangen und habe … Ich wollte unbedingt einen Schuss, ich konnte an gar nichts anderes mehr denken.« Sie senkte den Blick vor Scham. »Beinahe hätte ich einen Jungen gefragt, wo ich Drogen bekomme, Ethan. Ein Kind. Lieber Gott, was ist nur aus mir geworden? Früher war ich Lehrerin, und heute hätte ich beinahe ein Kind mit in meine Sucht hineingezogen. Ich war bereit, mein Leben zu zerstören beziehungsweise das, was davon noch übrig ist.«
Plötzlich packte sie wieder die Wut, sie errötete, ihre Augen funkelten.
»Meine Güte, wie erbärmlich das alles klingt. Verflucht, Ethan, ich habe es so satt, immer so mitleiderregend zu klingen. ›Was von meinem Leben noch übrig ist.‹ Es reicht, es reicht, es reicht«, rief sie. »Dabei habe ich solch ein Glück. Ich habe eine zweite Chance bekommen und tue alles, um sie zu vermasseln. Das ist unverzeihlich. Ich habe einen Mann, der zu mir hält, und eine großartige Familie, die mich liebt, und das alles wollte ich wegschmeißen, nur weil eine Frau mir Fragen gestellt hat und ich mich hilflos und minderwertig fühle.«
Erregt sprang sie auf und ballte die Hände zu Fäusten.
»Aber damit ist jetzt Schluss. Hörst du, Ethan? Schluss. Die Sucht will mich umbringen, aber das lasse ich nicht zu. Hörst du? Ich lasse es nicht zu. Vielleicht bin ich ja verrückt, aber ich werde dich und deine Familie nicht im Stich lassen. Ich werde mich selbst nicht im Stich lassen.«
Sie hob die Schultern, und, bei Gott, sie war umwerfend. Ihre Augen waren verquollen und gerötet, und sie atmete unregelmäßig, fast keuchend, aber so lebendig, so kraftvoll hatte er sie nicht erlebt, seit sie zu ihm zurückgekehrt war.
»Komm her«, sagte er leise. Er brachte kaum einen Ton heraus.
Nie in seinem Leben war er ihrer weniger würdig gewesen als in diesem Moment. Wäre er mutiger gewesen, hätte er ihr alles erzählt, ihr reinen Wein eingeschenkt und sie dann um Verzeihung gebeten. Sie angefleht, ihm noch eine Chance zu geben, alles wiedergutzumachen.
Doch das brachte er nicht über sich. Er nahm sie lediglich in die Arme und hielt sie fest. Sie zitterte am ganzen Leib, aber nicht weil sie erneut zu weinen angefangen hätte, sondern vor Wut.
Es war schon komisch. Wie er mit der zerbrechlichen, heulenden Rachel umzugehen hatte, wusste er. Er konnte sie halten, sie trösten, ihr eine Stütze sein, wenn sie nicht genug Kraft hatte, um auf eigenen Beinen zu stehen.
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