Killeralgen
Augen waren auf die hoch gewachsene Frau gerichtet, die aussah, als wäre sie aus einem Grab geholt worden. Blut befleckte ihr langes Totenhemd und ihr hageres Leichengesicht.
Die Lippen waren vertrocknet, und die Augen saßen tief in knochigen Höhlen. Erschrockene Seufzer erklangen, während sie in den Raum kam. Abermals blieb sie stehen und starrte jedem Gast in die Augen. Dann durchquerte sie den Raum, als schwebte sie auf einem Luftkissen. Vor einer riesigen Standuhr aus Ebenholz blieb sie stehen und klatschte in die Hände.
»Die Maske des Roten Todes heißt Sie alle willkommen«, sagte sie mit der prägnanten Stimme Racine Fauchards. »Bitte machen Sie weiter, meine Freunde. Denken Sie daran« – ihre Stimme verfiel in ein melodramatisches Zittern –, »das Leben vergeht, wenn der Rote Tod über Land zieht.«
Die schartigen Lippen verzogen sich zu einem grässlichen Lächeln. Nervöses Lachen erklang vereinzelt, und das Streichquartett begann wieder zu spielen. Diener, die wie erstarrt stehen geblieben waren, setzten ihre Rundgänge fort. Austin erwartete, dass Madame Fauchard ihre Gäste begrüßte, doch zu seiner Überraschung kam die Erscheinung auf ihn zu und nahm die schreckliche Maske ab, unter der ihr puppenhaftes Gesicht zum Vorschein kam.
»Sie sehen in Ihrer Schellenkappe und dem Kostüm reizend aus, Monsieur Austin«, sagte sie in verführerischem Tonfall.
»Vielen Dank, Madame Fauchard. Und ich habe noch nie eine reizvollere Pest kennen gelernt.«
Madame Fauchard reckte kokett den Kopf. »Sie scheinen sich in höfischer Etikette bestens auszukennen.« Sie wandte sich an Skye. »Und Sie sind eine wunderschöne schwarze Katze, Mademoiselle Bouchet.«
»
Merci
, Madame Fauchard.« Skye lächelte knapp. »Ich bemühe mich, das Streichquartett nicht aufzufressen, so sehr ich Mäuse liebe.«
Madame Fauchard musterte Skye mit dem neidvollen Ausdruck, den alternde Schönheiten für junge Frauen reservieren. »Eigentlich sind es Ratten. Ich wünschte, wir hätten Ihnen eine umfangreichere Auswahl an Kostümen anbieten können. Aber es macht Ihnen doch nichts aus, den Narren zu spielen, nicht wahr, Mr. Austin?«
»Ganz und gar nicht. Hofnarren fungierten früher als Berater der Könige. Es ist immer besser, den Narren zu
spielen
, als einer zu sein.«
Madame Fauchard lachte fröhlich und blickte zur Tür.
»
Bien
, ich sehe, dass Prinz Prospero eingetroffen ist.«
Eine maskierte Gestalt, bekleidet mit einem Trikot und einem Umhang aus rotem, mit Goldfäden gesäumtem Samt und einer dazu passenden Maske kam auf sie zu. Er nahm mit feierlicher Geste den Samthut ab und verbeugte sich vor Madame Fauchard.
»Ein wundervoller Auftritt, Mutter. Unsere Gäste waren richtig entsetzt.«
»Was sie auch sein sollten. Ich werde die anderen begrüßen, nachdem ich mit Mr. Austin gesprochen habe.«
Emil verbeugte sich abermals, diesmal vor Skye, und entfernte sich.
»Sie haben interessante Freunde«, stellte Austin fest und ließ seinen Blick über die Versammelten wandern. »Sind diese Leute Ihre Nachbarn?«
»Im Gegenteil. Sie sind die Nachkommen der großen Waffenproduzentenfamilien dieser Welt. In diesem Raum ist unendlicher Reichtum zugegen, der seine Existenz dem Tod und der Vernichtung verdankt. Ihre Vorfahren entwarfen die Speer- und Pfeilspitzen, die hunderttausende töteten, sie bauten die Kanonen, die Europa im vergangenen Jahrhundert verwüsteten, und stellten die Bomben her, die ganze Städte dem Erdboden gleich machten.
Sie sollten sich der Ehre bewusst sein, sich in einer solchen erlauchten Gesellschaft bewegen zu dürfen.«
»Ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt, wenn ich gestehe, dass ich nicht sonderlich beeindruckt bin.«
Madame Fauchard quittierte diese Bemerkung mit einem schrillen Lachen. »Ich nehme es Ihnen nicht übel. Diese umherstolzierenden, plappernden Narren sind dekadenter Euroschrott, der von den Reichtümern lebt, die der Schweiß ihrer Vorfahren geschaffen hat. Ihre einst so stolzen Firmen und Kartelle sind mittlerweile nicht mehr als gesichtslose Konzerne, deren Aktien an der New Yorker Börse gehandelt werden.«
»Was ist mit Lord Cavendish?«, wollte Austin wissen.
»Er ist noch bemitleidenswerter als die anderen, denn er hat nur seinen Namen und keine Reichtümer. Seine Familie war einst im Besitz des Verfahrens zum Schmieden von Stahl, ehe die Fauchards es ihr entwendeten.«
»Was ist mit den Fauchards? Sind sie immun gegen Dekadenz?«
»Niemand ist dagegen
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