Killers: Roman (German Edition)
noch immer bandagenfreien Beine hinab und tat einen Probeschritt.
Ihr rechtes Fußgelenk glich einem Verbrennungsmotor– man konnte sehen, wie sich sämtliche Einzelteile, Bänder, Muskeln und Knochen zusammen bewegten. Alles war durch Knorpel eingerahmt und geschützt.
Sie hätte diesem Schauspiel einen ganzen Tag lang beiwohnen können.
Abgesehen davon, dass sie es keinen ganzen Tag lang ausgehalten hätte.
Nach drei Schritten hielt Lucy inne und sagte: » Ich falle.«
Sie verspürte keinerlei Schmerzen.
Lediglich den wunderbaren Anflug einer Gleichgewichtsstörung. Das lag offenbar am Morphium. Wie auf einem Schiff auf hoher See.
Benjamin griff ihr unter die Arme. » Ich habe Sie.«
Nach fünf Schritten standen sie vor der offenen Tür zum Badezimmer.
Winslow schaltete das Licht für sie an.
» Ich glaube, ich schaffe es bis zur Toilette«, verkündete Lucy. Dann warf sie Lanz einen Blick zu. » Doc, glauben Sie, dass ich trotz meiner Verletzungen noch… Sie wissen schon.«
» Ihr Rektum ist wund und hat viel Abrieb verkraften müssen, aber Sie sollten noch in der Lage sein, Stuhlgang zu haben. Schwester Winslow wird Sie danach abwaschen, um sicherzugehen, dass Sie sich nicht entzünden.«
» Ich kann es kaum erwarten. Vielen Dank, Doc.«
Lucy hinkte alleine in das Bad, schloss die Tür hinter sich und hob ihren Krankenhauskittel. Dann stolperte sie die zwei Schritte zur Toilette und ließ sich vorsichtig auf die eiskalte Brille nieder.
Es fühlte sich merkwürdig an– ihre rechte Backe war definitiv intakter als ihre linke. Es war, als ob sie ein Bein auf der Straße und das andere auf dem Bürgersteig hatte.
» Alles klar bei Ihnen?«
Das war Schwester Winslow.
» Ja, danke.«
Lucy lehnte sich zurück. Einen Meter neben ihr hing ein Plastikvorhang vor einer behindertengerechten Dusche. An den Wänden waren metallene Griffe und sogar ein Sitz angeschraubt.
Hmmmm.
Ihr Plan entwickelte sich im Handumdrehen vor ihrem inneren Auge.
Benjamin trug sie zurück ins Bett.
Winslow legte ihr neue Bandagen an und bereitete die Vakuumtherapie vor.
Als Lucy endlich wieder alleine war, riss sie die Kanüle für das Morphium aus dem Infusionsport und wartete auf den Schmerz.
Innerhalb einer knappen Stunde war er da.
Er kam mit einem Tosen und einem Donnern.
Purer, wütender Schmerz, von Kopf bis Fuß.
Obwohl der Nervenblock noch ein paar Stunden hätte anhalten sollen, war es so schlimm, wie sie es sich nie hätte vorstellen können, geschweige denn erlebt hatte.
Sie war immer der Meinung gewesen, dass Schmerz nur Schmerz war, wenn man ihn bekämpfte.
Wenn man nicht genug Mumm besaß, sich ihm zu stellen, ihm ins Auge zu blicken.
Während ihrer gesamten Killerkarriere hatte sie immer wieder versucht, genau das ihren Opfern beizubringen. Lucy hatte sie über Wüstenstraßen geschleppt, während sie vor Todesqualen brüllend um Gnade flehten, damit sie dem Schmerz von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
Sie hatte versucht, ihnen beizubringen, dass es nicht Schmerz war, sondern pure Intensität, dass sie das Erlebnis genießen sollten, denn sie würden sich nie wieder so lebendig fühlen.
Also schloss sie die Augen, biss die Zähne zusammen und versuchte, es zu genießen, es zu lieben.
Wie lautete der Songtext noch gleich? Liebe tut weh. Wie wahr.
Liebe tut so weh, dass man es kaum aushalten kann.
Aber ein Gedanke half Lucy.
Als ihr die Tränen über die Wangen strömten.
Als der Gedanke an den Tod so süß und verlockend wie nie zuvor in ihrem Kopf umherschwirrte.
Donaldson.
Donaldson. Gefesselt. Nicht in der Lage zu entkommen. Nicht in der Lage, sich zu wehren. Und sie direkt neben ihm, wie sie ihm in seine fette Fratze mit dem Doppelkinn starrte. Vielleicht würde sie ein Messer haben. Vielleicht etwas Heißes. Vielleicht aber auch nichts weiter als ihre Zähne.
Wellen von Schmerz überspülten sie immer und immer wieder, taten ihr Bestes, Lucy von ihrer Vorstellung abzulenken.
Sie war kurz davor, klein beizugeben, als sie einen Moment strahlender, alles übertönender Klarheit erlebte. Plötzlich waren die Schmerzen nicht mehr Teil von ihr.
Sie gehörten nicht länger zu ihr, sondern zu Donaldson. Sie war Donaldson, und Lucy stellte sich vor, wie sie in ihre eigenen Augen blickte. Sie konnte sehen, wie er sich vor Pein krümmte und wie ein Insekt auf einer Stecknadel zuckte. Sie konnte seine Schreie um Gnade hören.
Das waren Donaldsons Schmerzen, nicht ihre.
Je mehr davon,
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