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Killerspiel

Killerspiel

Titel: Killerspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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hartnäckigem Abmühen hatte er sie frei.
    Er hielt sie sich vors Gesicht und drehte sie langsam hin und her. Er hatte seine Hand wieder. Stockend fing er an zu lachen – zunächst ein trockenes Pfeifen im Hals. Diesen seltsamen Ton brachte er so lange hervor, bis er glaubte, sich übergeben zu müssen. Ihm war schwindelig im Kopf, aber er ließ nicht locker.
    Er griff quer über sich und wandte sich der Drillichbinde zu, mit der sein anderes Handgelenk festgebunden war. Auf dieser Seite war die Stuhllehne stärker zerbrochen, und so bekam er seine linke Hand schon in fünf Minuten frei. Dann griff er mit beiden Händen nach oben und versuchte herauszufinden, wie die Bänder um seinen Hals befestigt waren. Nach ungefähr zwanzig Minuten war er nicht weitergekommen, doch dann stellte er bei einer zufälligen Bewegung fest, dass die obere Querplatte der Stuhllehne zerbrochen war, und er brauchte den Kopf nur schräg nach oben zu ziehen, um sich zu befreien. Die Drillichbinde blieb um seinen Hals, doch damit konnte er leben. In einer Welt, in der er einen solchen Sturz überlebt hatte, war er bereit, sich den Nebensächlichkeiten seines Überlebens klaglos unterzuordnen.
    Er legte beide Hände auf den Boden und drückte sich nach hinten, um festzustellen, wie stark der untere Teil des Stuhls beschädigt war. Da er seine Bewegung zentimeterweise mitmachte, schloss er daraus, dass der restliche Stuhl noch einigermaßen intakt sein musste. Doch mit ein bisschen Schieben, Ruckeln und Drehen brach er ihn schließlich auseinander. Seine Bemühungen wurden dadurch erleichtert, dass er in seinem rechten Bein kaum noch etwas spürte. Auch wenn das, langfristig gesehen, vermutlich schlecht war, erleichterte es das Ganze fürs Erste, und manchmal muss man sich eben ganz aufs Hier und Jetzt konzentrieren.
    Er zerrte. Er riss. Es war, als würde etwas in seinem Hinterkopf langsam rotieren, was vermutlich kein gutes Zeichen war. Er schluchzte ein paarmal auf und musste sich am Ende übergeben – mehrmals hintereinander elendes, heftiges, trockenes Würgen. Als es vorüber war, machte er sich wieder an die Arbeit.
    Nach etwa vierzig Minuten war er frei.
    Er rollte sich auf den Bauch und robbte über den Boden, bis seine Füße nicht länger in den Überresten des Stuhls verstrickt waren. Als er fast an der Wand war, blickte er sich mühselig um.
    Es war ziemlich dunkel, doch auf den Stapel zerbrochenen Holzes mitten auf dem Boden fiel genügend Licht von draußen, dass es nach den Überresten eines Entfesslungszaubers aussah, einer sensationellen Show, die eines David Copperfield würdig war. Ein Mann war darin von oben bis unten festgeschnürt gewesen. Hokuspokus, simsalabim, war er verschwunden.
    Allerdings war der Befreite verletzt. Er blutete aus einigen Wunden, an seiner linken Hand sahen zwei Finger so aus, als wären sie gebrochen, und fühlten sich auch so an, und in seinem Kopf drehte sich alles – langsam und unablässig, als versuchte sein Bewusstsein, durch ein verstopftes Rohr zu flüchten. Er hatte überall Schmerzen von einer Intensität, die ihm sagte, dass manches vielleicht irreparabel war.
    Aber er war am Leben. Was also nun?
    Er hatte sich mit einem klaren Ziel hinuntergestürzt, war wild entschlossen gewesen. Doch der Tod hatte ihm ein Schnippchen geschlagen.
    Der Tod wäre einfach gewesen. Seine gegenwärtige Lage war es nicht. Langsam stand er auf.
     
    Er arbeitete sich durchs Erdgeschoss voran, indem er sich an den Wänden abstützte. Bis er zu der Bautür mit dem Vorhängeschloss gelangte, hatte sein rechtes Bein die Schmerzamnestie widerrufen. Ebenso sein Gedächtnis. Er konnte sich haarklein daran erinnern, wieso es ihm sinnvoll erschienen war, sich das Leben zu nehmen.
    Falls die Cops in seinem Haus herumschnüffelten, musste er davon ausgehen, dass mehr als ein System außer Kraft gesetzt und sein altes Leben vorbei war.
    Er konnte nicht nach Hause.
    Also wohin?
    Vor gerade mal einer Woche hatte er noch gewusst, welche anderen Freunde er hätte anrufen können. Den Club, zu dem er fast zwanzig Jahre lang gehört hatte. Nachdem er nun allerdings seit drei Tagen nicht mehr auf dem Laufenden war, hatte er keine Ahnung, wie dort der neueste Stand der Dinge war, was sie wussten, was sie vermuteten, wie sauer sie sein würden und wozu sie imstande waren, um es ihm heimzuzahlen.
    Wenn er sich mit ihnen in Verbindung setzte, fielen sie vielleicht wie eine Meute Hunde über ihn her. Alte, müde Hunde, ja,

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