Killerspiel
Das wollte er wirklich nicht.
Die Panik, die sich in seinem Bauch breitmachte, nahm zu. Für einen Moment hatte er wahrhaftig überlegt, stattdessen Lynn anzurufen, doch er wusste, dass das ein Verzweiflungsakt gewesen wäre. Sie war nichts weiter als ein Spielzeug, Teil eines langen, ausgefeilten Programms der Selbstablenkung, nur dazu da, sich selbst und anderen zu beweisen, dass er wie andere leben konnte. Das war ihm bewusst. Sie konnte ihm jetzt nicht helfen, und er wunderte sich, dass er auch nur einen Moment darüber nachgedacht hatte.
In diesem Augenblick, in dem er sich mit einer Hand abstützte, um aufrecht stehen zu bleiben, und den Hörer in der linken hielt – was mit zwei gebrochenen Fingern gar nicht einfach war –, fragte er sich, ob er alles falsch gemacht hatte. Ob er vielleicht doch ein normales Leben hätte führen können.
Zu spät.
Jahre zu spät.
Zu spät, um irgendetwas anderes zu sein.
Und so hatte er schließlich die zweite Nummer gewählt.
Nach fünf Klingeltönen hob jemand ab. Vielleicht lag es daran, dass der Mann an der Westküste lebte, wo es drei Stunden früher war. Es war aber auch denkbar, dass er einfach nie schlief. Warner war diesem Mann in den letzten paar Jahren drei Mal begegnet, und auch wenn er wusste, dass er selbst ein schlechter Mensch war, hatte er sofort erkannt, dass dieser Mann einem ganz anderen Planeten angehörte. Er war höflich gewesen, zeitweilig sogar freundlich. Dennoch hatte er Warner gehörig Angst eingejagt, so wie ein Alien, das genau wie ein menschliches Wesen aussah, aber trotzdem etwas anderes war.
»Ja, bitte?«, fragte die Stimme.
»Hier spricht David Warner.«
»Und?«
»Ich stecke in ernsten … Schwierigkeiten.«
»Ich weiß.«
»Sie … woher? Woher wissen Sie das?«
»Weshalb rufen Sie an, David?«
Warner hatte sich vorgebeugt, bis er den Kopf an die rauhe Gipsputzmauer über dem Münzsprecher lehnen konnte. Er sagte einen Satz, den er in seinem ganzen Leben noch nie ausgesprochen hatte.
»Ich … brauche Hilfe.«
Er beschrieb seine Situation. Er beschrieb seine Verletzungen. Er beschrieb, wieso er nicht nach Hause konnte. Auch wenn er wusste, dass es wahrscheinlich ein Fehler war, erwähnte er die beträchtlichen Zahlungen, die er alljährlich leistete.
Der Mann am anderen Ende sagte ihm, was er tun sollte. Er gab ihm eine Telefonnummer, trug ihm auf, dort eine Nachricht mit seinem Aufenthaltsort zu hinterlassen und sich ansonsten unsichtbar zu machen.
Warner wollte ihm gerade danken, stellte jedoch fest, dass der Mann schon aufgelegt hatte. Er rief die gebührenfreie Nummer an, die er bekommen hatte, und hinterließ die Nachricht, er sei am Strand vor dem Bauprojekt Silver Palms. Ein sichererer Ort fiel ihm nicht ein. Kein Tourist würde ihn erkennen.
Er hängte den Hörer ein und hinkte Richtung Strand.
Er hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen war, doch wenn bereits Kinder auf waren und nach Muscheln suchten, musste es auf neun zugehen. Vielleicht war es auch später. Er hoffte, dass sie bald jemanden zu ihm schickten. Er fühlte sich wirklich nicht besonders gut.
»Ich hab ihr Gesicht gesehen«, sagte eine Stimme.
Sie kam von hinten, vielleicht zwei Meter den abschüssigen Strand hinauf. Er kannte den Sprecher. Er drehte sich nicht um. Brachte nichts, den Toten ins Gesicht zu sehen.
»Ich hab’s jeden Abend gesehen, wenn ich im Bett lag. Ich hab gesehen, wie sie dich angestarrt hat, als sie sah, wie betrunken du warst.«
Warner ließ den Kopf sinken und murmelte die Antwort in den Sand zwischen seinen Knien. »Sie war eine Barschlampe. Ein Flittchen. Sie hat nicht zum ersten Mal betrunkene Gringos gesehen.«
»Aber keinen wie dich. Keinen Mann, der sie auf den Rücksitz des Wagens lockt, weil ich auf dem Beifahrersitz bin und es deshalb ungefährlich scheint. Keinen, der sie endlos weit aus der Stadt fährt, um dann plötzlich anzuhalten.«
»Halt die Klappe«, sagte Warner.
»Und ich war einfach zu high, um irgendwas dagegen zu machen. Zu betrunken, zu viele Joints. Und verflucht, David, ich war erst
siebzehn.
Du auch. Wie sollte ich denn ahnen, dass so was passieren würde?«
»Ich hab’s ja auch nicht geahnt.«
»Oh, doch. Ich hab immer diese Eiseskälte bei dir gespürt, aber … verdammt, Dave. Erinnerst du dich, wie ihr Gesicht hinterher aussah? Wie du es mit dem Stein zugerichtet hast?«
Er erinnerte sich. Er erinnerte sich auch, wie er am nächsten Morgen am Strand, meilenweit von
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