Kind 44
durch sein Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft geformt worden war. Aber der Mörder bewegte sich ja offensichtlich frei im Lande, sprach Russisch und lockte Kinder an. Dieser Mörder operierte im gesellschaftlichen Gefüge ihres eigenen Landes. Alles, was sie über diese Art von Verbrechen wussten, was man ihnen weisgemacht hatte, stimmte entweder nicht oder war irrelevant. Sie mussten sich alle Mutmaßungen abtrainieren und ganz von vorne anfangen. Und Raisa glaubte, dass Iwans Zugang zu vertraulichen Informationen ihnen bei ihrer Neuorientierung sehr helfen konnte.
Leo sah zwar ein, dass derlei Material für sie von Vorteil sein würde, wollte aber gleichzeitig ihre Kontakte unbedingt auf so wenige Personen wie möglich beschränken. Ihr Hauptziel war, mit Galina Schaporina zu sprechen. Iwan war zweitrangig, und Leo war auch nicht vollkommen überzeugt, dass er das Risiko lohnte.
Dabei war ihm durchaus klar, dass seine Einschätzung auch durch persönliche Faktoren beeinflusst wurde.
War er etwa eifersüchtig auf Iwans Beziehung zu seiner Frau? Ja, das war er. Und wollte er etwa ihre Nachforschungen nicht mit Iwan teilen? Nein, nicht für eine Sekunde.
Leo spähte aus dem Zugfenster und wartete darauf, dass alle ausstiegen. Die Bahnhöfe wurden sowohl von Uniformierten als auch von Agenten in Zivil überwacht.
Alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte hielt man für riskante Einfallstore der Infiltration. Auf den Straßen gab es bewaffnete Kontrollpunkte. See- und Binnenhäfen waren unter ständiger Überwachung, und kein Ort wurde umfassender geschützt als Moskau. Sie beide versuchten gerade, sich in die am gründlichsten kontrollierte Stadt im ganzen Land zu schleichen. Ihr einziger Vorteil war, dass Wassili eigentlich keinen Grund hatte anzunehmen, dass sie leichtsinnig genug sein könnten, ein solches Wagnis auf sich zu nehmen. Kurz bevor sie den Zug verließen, wandte sich Leo Raisa zu.
»Wenn dich zufällig jemand ansieht, egal ob eine Wache oder sonst jemand, der vielleicht auch wie ein Zivilist aussieht: Schau nicht sofort wieder weg! Lächle nicht und beweg dich nicht anders als sonst! Halt einfach für einen Moment Augenkontakt und wende den Blick ab!«
Sie traten auf den Bahnsteig. Beide hatten sie nicht viel Gepäck dabei, denn große Taschen erregten schnell Aufmerksamkeit. Sie eilten über den Bahnhof und mussten sich bremsen, um nicht zu rennen. Leo war froh, dass viel Betrieb herrschte. Trotzdem merkte er, wie sein Hemdkragen vom Schweiß feucht wurde. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Agent nach ihnen suchte. Schon in Wualsk waren sie darauf bedacht gewesen, alle möglichen Beschatter abzuschütteln, indem sie herumerzählten, sie würden eine Wanderung durch die Berge machen. Urlaube mussten beantragt werden, und wegen ihres untergeordneten Status hatte man ihnen nur ein paar Tage bewilligt. Unter enormem Zeitdruck waren sie in einem großen Bogen in den Wald hineinmarschiert und hatten dabei aufgepasst, dass ihnen keiner folgte. Sobald sie sicher waren, allein zu sein, waren sie in die Nähe des Bahnhofs zurückgekehrt. Sie hatten sich ihrer matschverschmierten Kleider entledigt und sie zusammen mit der Zeltausrüstung vergraben. Dann hatten sie auf den Zug nach Moskau gewartet und ihn in letzter Minute bestiegen. Wenn alles nach Plan lief, würden sie sich den Augenzeugenbericht besorgen, nach Wualsk zurückkehren, sich dort in den Wald schleichen, ihre Ausrüstung wiederholen und in ihren schlammverkrusteten Sachen zurückkehren. Die Stadt würden sie über die nördlichen Wanderwege wieder betreten.
Sie waren schon fast am Ausgang, als ein Mann hinter ihnen rief: »Papiere!«
Ohne zu zögern, wandte Leo sich um. Weder lächelte er, noch wirkte er ruhig. Der Beamte, mit dem er es zu tun hatte, war von der Staatssicherheit, aber Leo kannte ihn nicht. Das war Glück. Er reichte dem Mann seine Papiere, und Raisa folgte seinem Beispiel.
Der Mann war groß und bullig. Leo studierte sein Gesicht. Seine Augen waren langsam und seine Bewegungen schwerfällig. Dass sie angehalten und durchsucht wurden, war nur Routine. Aber Routine oder nicht, die Papiere, die der Mann sich gerade ansah, waren gefälscht, und noch nicht einmal besonders gut. Leo hätte sich in seiner aktiven Zeit nie und nimmer davon blenden lassen. Nesterow hatte ihm geholfen, sie zu besorgen, und sie mit Leos Hilfe frisiert. Sie hatten sich viel Mühe gegeben,
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