Kind 44
leid.«
Sein Vater antwortete: »Du musst dich für nichts entschuldigen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir unser ganzes Leben unter solchen Umständen verbracht.«
Seine Mutter unterbrach ihn. Es gab so viel, was sie ihn fragen wollte.
»Wir haben euch für tot gehalten. Man sagte uns, ihr wäret verhaftet worden.«
»Sie haben gelogen. Ich bin nach Wualsk verschickt worden. Ich wurde degradiert, aber nicht eingesperrt.
Jetzt arbeite ich für die Miliz. Ich habe euch oft geschrieben und darum gebeten, dass man die Briefe weiterleiten möge, aber man hat sie wohl abgefangen.«
Die Kinder im Nachbarbett bewegten sich, ihr Bettgestell quietschte. Alle verstummten. Leo wartete, bis er die Kinder wieder tief und gleichmäßig atmen hörte.
»Raisa ist auch hier.«
Er führte die Hände seiner Eltern zu ihr. Alle vier hielten sie ihre Hände verschränkt. Seine Mutter fragte: »Und das Baby?«
»Nein.«
Um ihr Wiedersehen nicht noch schwieriger zu machen, fügte Leo hinzu: »Eine Fehlgeburt.«
Mit erstickter Stimme flüsterte Raisa: »Es tut mir leid.«
»Das ist doch nicht deine Schuld.« Anna fragte weiter:
»Wie lange seid ihr in Moskau? Können wir uns morgen sehen?«
»Nein. Wir dürfen überhaupt nicht hier sein. Wenn wir erwischt werden, verhaften sie uns und euch gleich mit. Wir müssen morgen früh sofort verschwinden.«
»Sollen wir mit herauskommen, damit wir reden können?«
Leo dachte darüber nach. Sie würden es nie schaffen, zu viert die Wohnung zu verlassen, ohne dass im Nebenzimmer jemand wach wurde. »Wir können es nicht riskieren, sie zu wecken. Wir müssen hier reden.«
Eine Weile sagte keiner etwas. Nur vier Händepaare, die sich in der Dunkelheit umklammert hielten. Dann flüsterte Leo: »Ich muss euch eine bessere Wohnung besorgen.«
»Nein, Leo. Jetzt hör mir mal zu. Du hast dich oft so benommen, als würde unsere Liebe zu dir davon abhängen, was du für uns tun könntest. Sogar als Kind schon. Aber das ist nicht richtig. Ihr müsst euch um euer eigenes Leben kümmern. Wir sind alt. Für uns spielt es keine Rolle mehr, wo wir wohnen. Das Einzige, was uns am Leben gehalten hat, war das Warten auf Nachricht von dir. Wir müssen akzeptieren, dass wir uns heute zum letzten Mal sehen. Es hat keinen Zweck, sinnlose Pläne zu schmieden. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen, Lebewohl zu sagen, Leo. Ich liebe dich und bin stolz auf dich. Ich wünschte, du könntest unter einer besseren Regierung dienen.«
Annas Stimme war jetzt ganz ruhig. »Ihr habt ja euch und liebt einander. Ihr werdet ein gutes Leben haben, daran glaube ich fest. Für euch und eure Kinder wird alles anders sein. Es wird ein anderes Russland sein.
Ich bin sehr hoffnungsvoll.«
Ein Hirngespinst, aber wenn sie daran glauben wollte, würde er ihr nicht widersprechen.
Stepan nahm Leos Hände und legte einen Briefumschlag hinein. »Das ist ein Brief, den ich schon vor Monaten geschrieben habe. Ich konnte ihn dir leider nicht mehr geben, weil sie dich weggeschickt haben. Ich habe ihn in der Hoffnung aufbewahrt, dass du noch am Leben bist. Lies ihn bitte erst, wenn du sicher im Zug sitzt. Versprich mir, dass du ihn nicht vorher liest. Versprich es mir.«
»Was steht da drin?«
»Deine Mutter und ich haben uns den Inhalt dieses Briefes sehr genau überlegt. Er enthält alles, was wir dir immer sagen wollten, aber aus dem einen oder anderen Grund nicht sagen konnten. Hier steht alles drin, worüber wir schon vor langer Zeit hätten reden sollen.«
»Vater.«
»Nimm ihn, Leo. Tu es für uns.«
Leo nahm den Brief entgegen und in der Dunkelheit umarmten sie sich ein letztes Mal.
6. Juli
Leo näherte sich dem Zug, Raisa ging neben ihm. War mehr Polizei auf dem Bahnsteig als üblich? War es möglich, dass man schon nach ihnen suchte? Raisa wurde zu schnell. Er nahm kurz ihre Hand, und sie verlangsamte ihre Schritte. Den Brief seiner Eltern hatte er sich zusammen mit den Unterlagen an die Brust geklebt. Gleich waren sie an ihrem Eisenbahnwagen. Sie stiegen in den überfüllten Zug. Leo flüsterte Raisa zu:
»Bleib hier.« Sie nickte. Leo zwängte sich in die enge Toilette, schloss die Tür hinter sich ab und klappte den Deckel zu, damit es weniger stank. Er zog seine Jacke aus, knöpfte sein Hemd auf und holte das dünne Baumwollsäckchen hervor, das er sich für die Akte genäht hatte. Es war schweißdurchtränkt, und die Tinte der maschinengeschriebenen Dokumente hatte überall graue Flecken auf seiner Haut
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