Kind 44
hinterlassen.
Er fand den Brief und drehte und wendete ihn. Auf dem zerknitterten, schmutzigen Umschlag stand kein Name.
Er fragte sich, wie seine Eltern es geschafft hatten, dieses Geheimnis vor der anderen Familie zu verbergen, die doch mit Sicherheit ihre Habseligkeiten durchsucht hatte. Einer der beiden musste den Brief immer am Körper getragen haben, Tag und Nacht.
Der Zug setzte sich in Bewegung und verließ Moskau.
Leo hatte sein Versprechen gehalten und gewartet, bis sie den Bahnhof verließen, bevor er den Umschlag geöffnet und die Seiten entfaltet hatte. Jetzt durfte er den Brief lesen.
Es war die Handschrift seines Vaters.
Lieber Leo,
weder Deine Mutter noch ich bedauern irgendetwas.
Wir lieben Dich. Wir haben immer geglaubt, dass einmal der Tag kommen würde, wo wir mit Dir über diese Geschichte sprechen würden. Aber zu unserer eigenen Überraschung ist dieser Tag dann doch nie gekommen.
Wir dachten, Du würdest irgendwann von selbst davon anfangen, aber das hast Du nicht gemacht. Du hast Dich immer so verhalten, als sei nie etwas geschehen.
Wer weiß, vielleicht war es ja einfacher für Dich, es zu vergessen. Deshalb haben auch wir nichts gesagt. Wir dachten, es sei eben Deine Art, mit der Vergangenheit umzugehen. Wir befürchteten, dass Du sie aus Deinem Gedächtnis verbannt hättest und es Dich nur verletzen würde, wenn wir wieder davon anfingen. Kurz, wir waren glücklich miteinander und wollten das nicht zerstören. Das war feige.
Ich wiederhole es noch einmal. Deine Mutter und ich lieben Dich über alles, und keiner von uns empfindet irgendein Bedauern. Leo, ...
Er hörte auf zu lesen und wandte den Kopf ab. Ja, er erinnerte sich daran, was geschehen war. Er wusste, wie der Brief weitergehen würde. Und in der Tat hatte er sein ganzes Leben lang versucht, es zu vergessen.
Leo faltete den Brief zusammen und riss ihn in winzige Fetzen. Dann stand er auf, öffnete das kleine Fenster und warf sie hinaus. Der Wind fing die Schnipsel ein und trug sie hoch hinauf, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
Südöstliche Rostower Oblast
16 Kilometer östlich von Rostow am Don
Am selben Tag
Nesterow hatte seinen letzten Tag in der Oblast damit verbracht, nach Gukowo zu fahren. Jetzt saß er in der Elektritschka und war auf dem Weg zurück nach Rostow. Die Zeitungen erwähnten die Verbrechen zwar mit keinem Wort, aber trotzdem hatte die Geschichte mit den ermordeten Kindern über Geflüster und Gerüchte die Runde gemacht. Die jeweiligen örtlichen Dienststellen der Miliz sahen die Morde nach wie vor lediglich als Einzelfälle an. Aber Leute, die nicht in der Miliz waren und sich über irgendwelche Ideologien hinsichtlich der Natur des Verbrechens keine Gedanken machen mussten, hatten angefangen, die Todesfälle miteinander in Verbindung zu bringen. Inoffizielle Erklärungen fingen an zu zirkulieren. So hatte Nesterow zum Beispiel gehört, dass in den Wäldern um Schachty ein wildes Tier Kinder riss. Jeder Ort hatte seine eigene Bestie, und überall in der Oblast kursierten die wildesten übernatürlichen Spekulationen. Nesterow hatte eine besorgte Mutter sagen hören, das Biest sei halb Mensch, halb Tier, ein Kind, das von Bären aufgezogen worden war und deshalb jetzt alle normalen Kinder hasste und auffressen wollte. In einem anderen Dorf hatte man einen rachsüchtigen Waldgeist im Verdacht und versuchte mit einer aufwendigen Zeremonie, den Dämon zu besänftigen.
Die Menschen in der Rostower Oblast hatten keine Ahnung, dass es Hunderte Kilometer von ihnen entfernt ähnliche Verbrechen gab. Sie glaubten an einen Pesthauch, an das Böse, das zu ihnen gekommen war, um sie zu peinigen. In gewisser Weise gab Nesterow ihnen sogar recht. Er hatte keinen Zweifel, dass er sich im Kerngebiet all dieser Verbrechen befand. Die Konzentration der Morde war hier viel höher als irgendwo sonst. Nesterow neigte zwar nicht zu einer übernatürlichen Erklärung, doch der beliebtesten und plausibelsten Theorie hatte auch er sich nicht ganz entziehen können: dass nämlich Hitler als finalen Akt der Rache eine Schwadron von Nazisoldaten zurückgelassen hatte, deren letzter Befehl es gewesen war, die Kinder Russlands zu ermorden. Diese Nazisoldaten hatten gelernt, sich als Russen auszugeben und in der Masse aufzugehen, während sie systematisch nach einem vorbestimmten Ritual Kinder umbrachten. Das würde nicht nur die Anzahl der Morde erklären, die weite Verbreitung und die Grausamkeit, sondern auch das Fehlen
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