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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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war er abgefahren, und jetzt war es kurz vor neun Uhr abends. Fünfzehn Stunden war er unterwegs gewesen, und an tatsächliche Informationen war er trotzdem nicht herangekommen. Seine Zeit war um.
    Morgen fuhren sie nach Hause.
    Er betrat den Innenhof. Über die gesamte Breite des Hofes hing Wäsche. Er entdeckte auch seine eigenen Sachen darunter und befühlte sie. Sie waren trocken.
    Nesterow tauchte unter der Wäsche hindurch, ging zur Wohnungstür seiner Mutter und betrat die Küche.
    Inessa saß auf einem Holzstuhl. Ihr Gesicht war blutig, die Hände gefesselt. Hinter ihr stand ein Mann, den er nicht kannte. Ohne sich lange damit aufzuhalten, was hier passiert oder wer dieser Kerl war, sprang Nesterow vor, überwältigt von einer mordgierigen Wut. Es war ihm egal, dass der andere eine Uniform anhatte. Nesterow hob die Fäuste. Aber noch bevor er nah genug heran war, spürte er einen heftigen Schmerz auf seiner Hand. Als er sich umdrehte, sah er eine etwa vierzigjährige Frau. In einer Hand hielt sie einen Schlagstock.
    Er hatte ihr Gesicht schon einmal gesehen – vor zwei Tagen, am Strand. In der anderen Hand hielt sie lässig eine Pistole – sie schien ihre Machtposition zu genießen. Jetzt gab sie dem Beamten ein Zeichen. Er trat vor und warf einen Haufen Papiere auf den Boden. Dort, zu Nesterows Füßen, lag jedes einzelne Dokument, das er in den letzten zwei Monaten zusammengetragen hatte, einschließlich der Fotos, Zeichnungen und Karten. Die gesamte Akte über die ermordeten Kinder.
    »General Nesterow, Sie sind verhaftet.«

Wualsk
7. Juli
    Leo und Raisa stiegen aus dem Zug und taten so, als hätten sie noch mit ihrem Gepäck zu tun. Sie warteten, bis alle anderen Passagiere in der Bahnhofshalle verschwunden waren. Es war zwar schon spät, aber noch nicht richtig dunkel, und während sie vom Bahnsteig kletterten und in den Wald huschten, hätten sie durchaus entdeckt werden können.
    Als sie die Stelle erreicht hatten, wo sie ihre Sachen versteckt hatten, blieb Leo stehen und atmete tief durch. Er starrte in die Baumwipfel und fragte sich, warum er sich entschlossen hatte, den Brief seiner Eltern zu zerstören. Hatte er ihnen damit einen schlechten Dienst erwiesen? Ihm war bewusst, warum sie ihre Gedanken und Gefühle hatten niederschreiben wollen. Sie wollten Frieden mit der Sache schließen. Aber Raisa hatte schon recht gehabt, als sie ihn gefragt hatte: Kannst du nachts besser schlafen, wenn du alles in deinem Kopf ausradierst?
    Sie war der Wahrheit näher, als sie ahnen konnte.
    Raisa berührte seinen Arm. »Alles in Ordnung?«
    Sie hatte gefragt, was in dem Brief stand. Er hatte sie anlügen und ihr erzählen wollen, es sei um seine Familie gegangen – persönliche Einzelheiten, die er vergessen hatte. Aber sie hätte gemerkt, dass er sie belog, also hatte er die Wahrheit gesagt. Dass er den Brief in 100 Schnipsel zerrissen und diese aus dem Fenster geworfen hatte. Er wollte ihn nicht lesen. Seine Eltern sollten gerne glauben, dass ihnen die Last von der Seele genommen war. Zu Leos Erleichterung hatte sie seine Entscheidung nicht hinterfragt und die Angelegenheit seitdem auch nicht mehr erwähnt.
    Mit den Händen schaufelten sie die Abdeckung aus Blättern und loser Erde weg und gruben ihre Sachen aus. Dann entledigten sie sich ihrer Stadtkleidung und wollten wieder die Wandersachen anziehen, mit denen sie losmarschiert waren, ein wichtiges Element ihrer Verschleierungstaktik. Als sie dann so nackt dastanden, allein, hielten sie plötzlich inne und starrten einander an. Vielleicht war es die Gefahr, vielleicht war es auch nur opportunistisch, aber Leo wollte sie. Doch weil er sich ihrer Gefühle ihm gegenüber nicht sicher war, wartete er ab, traute sich nicht, den ersten Schritt zu machen, so als hätten sie noch nie miteinander geschlafen. Als sei dies ihr erstes Mal und sie seien sich über die Grenzen nicht im Klaren, wüssten nicht, was erlaubt war und was nicht. Sie streckte ihren Arm aus und berührte seine Hand. Mehr brauchte es nicht. Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Sie hatten gemeinsam gemordet, zusammen Ränke geschmiedet und zusammen gelogen. Sie waren Kriminelle, alle beide, gegen den Rest der Welt. Es war an der Zeit, dass sie diese neue Ehe vollzogen. Wenn sie doch nur hier bleiben könnten, nur diesen Moment leben und im Wald verborgen für immer diese Gefühle auskosten könnten.
    Sie trafen wieder auf den Waldweg und marschierten zurück in die Stadt. Als sie in

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