Kind 44
irgendeines sexuellen Motivs. Dann gab es nicht nur einen Mörder, sondern viele, vielleicht bis zu zehn oder zwölf, von denen jeder auf eigene Faust handelte, in irgendeine Stadt fuhr und wahllos tötete. Diese Theorie hatte sich derart schnell verbreitet, dass in einigen Orten die Miliz, die paradoxerweise vorher behauptet hatte, alle Morde aufgeklärt zu haben, anfing, sämtliche Männer zu verhören, die Deutsch konnten.
Nesterow stand auf und streckte die Beine aus. Drei Stunden hatte er in der Elektritschka gesessen. Sie war langsam und unbequem, außerdem war er es nicht gewohnt, so lange zu sitzen. Er durchquerte den Fahrgastraum von einem Ende bis zum anderen, machte dann das Fenster auf und sah zu, wie die Lichter der Stadt sich näherten. Nachdem er von dem Mord an einem Jungen namens Petja gehört hatte, der von einem landwirtschaftlichen Kollektiv in der Nähe von Gukowo stammte, war er am Morgen dort hingefahren. Die Eltern des betreffenden Jungen hatte er ohne große Schwierigkeiten gefunden. Er hatte zwar einen falschen Namen genannt, aber wahrheitsgemäß erklärt, dass er in einer ganzen Anzahl ähnlicher Kindermorde ermittelte. Die Eltern des Jungen waren überzeugte Anhänger der Nazi-Theorie und glaubten, dass vielleicht sogar ukrainische Verräter den Deutschen geholfen hatten, sich unter die Gesellschaft zu mischen, bevor diese dann willkürlich ihre Morde begonnen hatten. Der Vater zeigte Nesterow Petjas Briefmarkenalbum, das die Eltern in einer Holzkiste unter ihrem Bett aufbewahrten wie einen Schrein zum Gedenken an ihren toten Sohn.
Sie konnten die Briefmarken nicht ansehen, ohne in Tränen auszubrechen. Man hatte den Eltern verweigert, ihren Jungen noch einmal zu sehen, aber sie hatten gehört, was man ihm zugefügt hatte. Er war verstümmelt worden wie von einem Tier, und dann hatte man ihm, als wolle man sie zusätzlich quälen, auch noch Dreck in den Mund gestopft. Der Vater hatte im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und wusste, dass man die Nazisoldaten unter Drogen gesetzt hatte, damit sie auch ja ordentlich brutal, unmoralisch und erbarmungslos vorgingen. Er war sich sicher, dass diese Mörder das Produkt irgendeiner Nazidroge waren.
Vielleicht hatte man sie auf Kinderblut abgerichtet, ohne das sie nun nicht mehr leben konnten. Warum sonst hätten sie solche Verbrechen begehen sollen?
Nesterow fand keine tröstenden Worte für sie. Er konnte ihnen nur versprechen, dass man den oder die Schuldigen fassen werde.
Die Elektritschka erreichte Rostow, und Nesterow stieg aus. Er war sich nun sicher, dass er den Mittelpunkt dieser Verbrechensserie gefunden hatte. Bevor er vor vier Jahren nach Wualsk versetzt worden war, hatte er der Miliz von Rostow angehört, und es fiel ihm nicht schwer, an Informationen zu kommen. Nach seiner letzten Zählung waren 57 Kinder unter seiner Meinung nach vergleichbaren Umständen umgekommen. Ein Großteil der Morde war in ebendieser Oblast begangen worden. War es denn tatsächlich möglich, dass die gesamte Westhälfte des Landes von zurückgelassenen Nazis infiltriert war? Es war ein riesiges Gebiet, das damals von der Wehrmacht besetzt gewesen war. Er hatte selbst in der Ukraine gekämpft und die Vergewaltigungen und Morde der Armee auf ihrem Rückzug miterlebt. Er beschloss, sich nicht auf die eine oder andere Theorie festzulegen, und wischte die Erklärung damit beiseite. Wenn sie statt Spekulationen über die Identität des Mörders tatsächlich einige handfeste Hinweise finden wollten, dann war dafür entscheidend, was Leo in Moskau herausbekam. Nesterow selbst hatte die Aufgabe übernommen, Fakten über den möglichen Wohnort des Mörders zu sammeln.
Während ihres Urlaubs hielt sich seine Familie in der Wohnung seiner Mutter auf, einem Musterbeispiel jener Neubaugebiete, die im Rahmen der Wohnungsbauprogramme der Nachkriegszeit entstanden waren und eher dazu angetan waren, eine Quote zu erfüllen, als dass tatsächlich Leute darin wohnen konnten. Eigentlich hatten die Gebäude sich schon vor ihrer Fertigstellung in einer Art Verfallszustand befunden. Es gab kein fließendes Wasser und kein Abwassersystem, ganz so wie in seiner eigenen Behausung in Wualsk. Mit Inessa war er übereingekommen, seine Mutter anzulügen und ihr zu sagen, dass sie jetzt eine neue Wohnung hatten.
Die Flunkerei hatte seine Mutter derart erfreut, als wohne sogar sie selbst dort. Als Nesterow am Haus seiner Mutter ankam, sah er auf die Uhr. Um sechs Uhr morgens
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