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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sollen. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich habe da drüben gestanden und nach den Abfahrtszeiten der Busse morgen geschaut, und dann hat sie mich angesprochen. Sie wissen doch, wie das ist – mit den Trieben. Es ist einfach über mich gekommen. Aber wenn Sie in der Seitentasche des Koffers nachsehen wollen, finden Sie meinen Mitgliedsausweis für die Partei.«
    Aron fand den Ausweis. Außerdem fand er eine Fotografie, die den Mann mit seinen zwei Töchtern zeigte.
    »Meine Töchter. Herr Schutzmann, es besteht doch kein Grund, die Sache hier weiter zu verfolgen, oder?
    Es ist allein die Schuld dieses Mädchens. Sonst wäre ich doch schon längst auf dem Weg nach Hause.«
    Ein anständiger Bürger, der von einem betrunkenen Mädchen verleitet worden war, einem verkommenen Subjekt. Der Mann war höflich gewesen. Er hatte nicht Arons Lippe angeglotzt oder irgendwelche geringschätzigen Bemerkungen gemacht. Er hatte ihn als Gleichrangigen behandelt, obwohl er älter war, eine bessere Arbeit hatte und obendrein noch Parteimitglied war. Er war ein Opfer. Die Verbrecherin war sie.
    Andrej hatte schon die Schlinge um seinen Hals gespürt, aber jetzt merkte er, dass er so gut wie frei war.
    Das Foto von seiner Familie hatte ihm bereits oft unschätzbare Dienste geleistet. Manchmal benutzte er es dazu, zögerliche Kinder davon zu überzeugen, dass man ihm trauen konnte. Wo er doch selbst Vater war.
    Er fühlte die Schnur in seiner Hosentasche. Nicht heute Abend. In Zukunft würde er sich am Riemen reißen müssen. Er durfte nicht mehr in seiner Heimatstadt töten.
    Aron wollte den Mann gerade gehen lassen, er hatte bereits den Ausweis und die Fotografie zurückgesteckt, als er in dem Koffer noch etwas anderes entdeckte: einen in der Mitte gefalteten Zeitungsausschnitt. Er zog ihn heraus und faltete ihn auf.
    Andrej ertrug es nicht, wie dieser Idiot mit seiner widerwärtigen Lippe den Ausschnitt mit seinen ungewaschenen Fingern anfasste. Beinahe hätte er ihm das Papier aus der Hand gerissen. »Darf ich das bitte wiederhaben?«
    Zum ersten Mal wirkte die Stimme des Mannes erregt.
    Warum war ihm dieser Papierfetzen so wichtig? Es war ein mehrere Jahre alter und mittlerweile schon vergilbter Zeitungsausschnitt. Es gab keinen Text und keinen Quellennachweis. Alles weggeschnitten, man konnte unmöglich sagen, aus welcher Zeitung er stammte. Das Einzige, was noch übrig war, war ein Bild aus dem Großen Vaterländischen Krieg – das brennende Wrack eines deutschen Panzers. Rings herum standen russische Soldaten mit triumphierend hochgereckten Gewehren, zu ihren Füßen tote deutsche Soldaten. Ein Siegesfoto, ein Propagandafoto. Aron mit seiner »entstellten«
    Oberlippe verstand sehr gut, warum man das Foto in der Zeitung gedruckt hatte. Der russische Soldat in der Mitte war ein gut aussehender Mann mit einem gewinnenden Lächeln.

Moskau
10. Juli
    Leos Gesicht war angeschwollen, jede Berührung schmerzte. Sein rechtes Auge war zu, verborgen hinter Wülsten geschwollener Haut. Seine eine Brustseite schmerzte heftig, so als seien mehrere Rippen gebrochen. Am Unfallort hatte man ihn notdürftig medizinisch versorgt, aber sobald klar war, dass keine Lebensgefahr bestand, hatte man ihn mit einigen bewaffneten Aufpassern auf einen Laster verfrachtet. Auf dem Weg nach Moskau hatte er jedes Schlagloch gespürt, als sei es ein Schlag in die Magengrube. Da er keine Schmerztabletten hatte, war er immer wieder ohnmächtig geworden. Brav hatten ihn seine Bewacher jedes Mal mit dem Gewehrkolben geweckt, weil sie nicht riskieren wollten, dass er ihnen unterwegs starb. Leo hatte die Fahrt zwischen fiebrigen Hitzewallungen und dem Gefühl eisiger Kälte verbracht. Und er hatte sich damit abgefunden, dass diese Verletzungen erst der Anfang waren.
    Die Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet hier enden musste, festgezurrt auf einem Sessel in einer Verhörzelle der Lubjanka, war Leo nicht entgangen. Ein Wächter des Staates war zum Gefangenen des Staates geworden – keine ungewöhnliche Schicksalswendung.
    So fühlte es sich also an, ein Staatsfeind zu sein.
    Die Tür ging auf. Leo hob den Kopf. Wer war noch mal dieser Mann mit der blassen Haut und den gelblichen Zähnen? Ein ehemaliger Kollege, an so viel konnte er sich erinnern. Aber der Name fiel ihm nicht mehr ein.
    »Erinnern Sie sich an mich?«
    »Nein.«
    »Ich bin Doktor Zarubin. Wir sind uns schon ein paar Mal begegnet. Vor gar nicht langer Zeit habe ich Sie besucht, als

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