Kind 44
Sie krank waren. Es tut mir leid, Sie in einer solch misslichen Lage zu sehen. Das sage ich nicht, weil ich das, was gegen Sie unternommen wird, missbillige. Ich meinte nur, mir wäre es lieber, Sie hätten es nicht getan.« »Was getan?«
»Ihr Land verraten.«
Der Arzt tastete seine Rippen ab. Bei jeder Berührung musste Leo die Zähne zusammenbeißen. »Mir wurde gesagt, Ihre Rippen seien gebrochen, aber das stimmt nicht. Sie sind nur geprellt, was zweifellos schmerzhaft genug ist. Ich bin angewiesen worden, die Wunden zu säubern und die Verbände zu wechseln.«
»Erst pflegen, dann foltern. So ist das hier ja wohl üblich. Einmal habe ich einem Mann das Leben gerettet, nur damit ich ihn hierher bringen konnte. Ich hätte Brodsky da unten in dem Fluss lassen sollen.«
»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«
Leo verstummte. Es war einfach, seine Taten zu bereuen, wenn das Glück sich gewendet hatte. Klarer als je zuvor sah er, dass ihm seine einzige Chance auf Sühne entglitten war. Der Mörder würde weiter morden, und nicht etwa, weil er ein so ausgefuchster Stratege war, sondern weil dieses Land sich weigerte, auch nur die Existenz eines solchen Mannes zuzugeben, und ihn so mit einer perfekten Immunität umgab.
Der Doktor verband die letzten von Leos Wunden. Seine ärztliche Hilfe sollte sicherstellen, dass die darauffolgende Folter auch wirklich bei vollem Bewusstsein wahrgenommen wurde. Mach sie wieder gesund, damit man ihnen besser wehtun kann. Der Arzt lehnte sich vor und flüsterte Leo ins Ohr: »Jetzt werde ich mich um Ihre Frau kümmern. Ihre schöne Frau. Sie sitzt gefesselt nebenan, ganz hilflos. Und daran sind Sie schuld. Alles, was ich jetzt mit ihr mache, ist Ihre Schuld. Ich werde dafür sorgen, dass sie jeden Tag verflucht, an dem sie Sie geliebt hat. Ich werde dafür sorgen, dass sie es herausschreit.«
Leo brauchte eine Weile, um zu verstehen, was er gehört hatte, so als habe der andere in einer fremden Sprache gesprochen. Was hatte er diesem Menschen denn getan? Er hätte ihn doch kaum wiedererkannt.
Warum bedrohte er Raisa? Leo versuchte aufzustehen und sich auf den Arzt zu stürzen, aber der Sessel war am Boden fixiert und er am Sessel.
Dokor Zarubin schreckte zurück wie jemand, der seinen Kopf zu nah an einen Löwenkäfig gehalten hatte. Er sah zu, wie Leo an seinen Fesseln zerrte, wie die Adern an seinem Hals anschwollen, der Kopf mit dem bemitleidenswert verquollenen Auge rot wurde. Es war faszinierend, so als beobachte man eine Fliege, die man in einem Glas gefangen hatte. Der Mann verstand offenbar gar nicht, dass er vollkommen hilflos war.
Der Arzt nahm sein Köfferchen und wartete, bis die Wache die Tür öffnete. Er hatte damit gerechnet, dass Leo ihn beschimpfen, damit drohen würde, ihn umzubringen, aber zumindest in dieser Hinsicht wurde er enttäuscht.
Er ging durch den Flur des Kellers, nur ein paar Schritte bis zur Nachbarzelle. Die Tür wurde geöffnet, und Zarubin trat ein. Raisa saß genauso gefesselt da wie ihr Mann. Der Gedanke erregte ihn, dass sie ihn erkennen und begreifen würde, dass es besser gewesen wäre, sein Angebot anzunehmen. Dann wäre sie jetzt in Sicherheit. Offensichtlich war sie doch nicht die Überlebenskünstlerin, für die er sie gehalten hatte. Dabei war sie außergewöhnlich schön. Das hätte sie ausnutzen sollen, anstatt sich für die Treue zu entscheiden. Vielleicht glaubte sie ja an ein Leben nach dem Tode, wo ihre Loyalität belohnt werden würde. Hier allerdings zählte so etwas nicht.
Bestimmt würde ihre Reue ihn stimulieren. Vielleicht flehte sie ihn ja an: Helfen Sie mir!
Jetzt würde sie jede Bedingung akzeptieren, er konnte alles von ihr kriegen. Er konnte sie behandeln wie ein Stück Dreck, sie würde es freudig hinnehmen und noch um mehr betteln. Sie würde sich ihm vollkommen unterwerfen. Er öffnete ein Gitter an der Wand. Es sah so aus, als sei es ein Teil der Belüftungsanlage, aber tatsächlich diente es dazu, sich von Zelle zu Zelle zu verständigen. Zarubin wollte, dass Leo jedes Wort mithörte.
Raisa starrte Zarubin an. Sie sah, wie er ein gespielt trauriges Gesicht aufsetze, mit dem er ihr vermutlich sagen wollte: Hätten Sie doch nur mein Angebot angenommen.
Er stellte seinen Koffer ab und begann sie abzutasten, obwohl sie unverletzt war: »Ich muss Sie überaus gründlich untersuchen. Für den Bericht.«
Raisa hatte sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen.
Das Restaurant war umstellt gewesen. Dann waren
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