Kind 44
dann den Wagen stehen lassen und verstecken, sich in die Büsche schlagen und irgendwann einen Zug nehmen. Solange sie den Wagen nicht fanden, standen seine Chancen ohne ihn erheblich besser.
Er bog auf die Hauptdurchgangsstraße ein, beschleunigte und fuhr Richtung Westen. Er sah in den Rückspiegel. Wenn sie glaubten, dass er zu Fuß unterwegs war, dann würden sie zunächst eine gründliche Durchsuchung aller Gebäude im Viertel vornehmen, was ihm gut und gern eine Stunde Vorsprung verschaffte. Er drückte aufs Gaspedal und holte aus dem Wagen die Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern heraus.
Weiter vorne befanden sich Männer auf der Straße, sie standen um einen abgestellten Wagen herum. Ein Miliz-Fahrzeug. Es war eine Straßensperre. Sie waren kein Risiko eingegangen. Wenn die Straße nach Westen gesperrt war, dann war die nach Osten es auch. Sie hatten die ganze Stadt abgeriegelt. Seine einzige Hoffnung bestand darin, die Straßensperre zu durchbrechen. Er würde Anlauf nehmen und dem quer zur Straße abgestellten Auto in die Seite fahren. Dadurch würde der Wagen zur Seite geschleudert werden. Beim Aufprall musste er aufpassen. Wenn ihr Wagen demoliert war, würden sie ihn nicht sofort verfolgen können. Es war zum Verzweifeln, sein Vorsprung war auf ein paar Minuten geschrumpft.
Die Agenten vor ihm eröffneten das Feuer. Der Bug des Wagens wurde von Kugeln getroffen, die Funken schlagend auf dem Blech auftrafen. Leo duckte sich hinter das Steuer und konnte dadurch die Straße nicht mehr sehen. Doch sein Wagen war in Position, er musste nur noch geradeaus fahren. Weitere Kugeln schlugen durch die Windschutzscheibe. Glassplitter regneten herab. Er war immer noch auf Kurs und stützte sich gegen den Aufprall ab.
Der Wagen kam ins Schlingern. Leo drückte sich in den Sitz und versuchte ihn unter Kontrolle zu halten, aber der Wagen brach nach links aus. Die Reifen waren zerschossen, er war machtlos. Das Auto legte sich auf die Seite, und das Seitenfenster barst. Leo wurde gegen die Tür geschleudert, war nur Zentimeter über der Straße, der Wagen rutschte, Funken stoben. Der Bug schlug in das andere Fahrzeug ein, und Leos Wagen drehte sich um die eigene Achse. Dann rollte er aufs Dach und rutschte von der Straße an den Rinnstein. Leo wurde von der Tür gegen das Dach geschleudert und krümmte sich dort zusammen, bis der Wagen schließlich zum Stillstand kam.
Er öffnete die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er sich rühren konnte, und brachte die Kraft nicht auf, es herauszufinden. Er starrte in den Nachthimmel. Sein Kopf arbeitete langsam. Er merkte, dass er nicht mehr im Wagen lag. Jemand musste ihn herausgezogen haben.
Vor ihm tauchte ein Kopf auf, versperrte die Sicht auf die Sterne und schaute auf ihn herab. Leo konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes.
Es war Wassili.
Rostow am Don
Am selben Tag
Aron hatte sich vorgestellt, die Arbeit bei der Miliz sei aufregend. Jedenfalls aufregender, als in einer Kolchose zu arbeiten. Dass sie nicht gut zahlten, hatte er schon vorher gewusst, aber dafür gab es auch keine nennenswerte Konkurrenz. Arbeit zu finden, war nicht gerade seine starke Seite. Nicht, dass irgendwas mit ihm nicht gestimmt hätte, in der Schule war er sogar gut gewesen. Aber er war mit einer »entstellten« Oberlippe auf die Welt gekommen. So hatte ihm das der Arzt jedenfalls erklärt. Sie sei nun mal »entstellt«, da könne er auch nichts machen. Es sah aus, als habe man ein Stück seiner Oberlippe weggeschnitten und die Reste dann zusammengenäht. Deshalb ging die Lippe in der Mitte hoch, so dass seine Schneidezähne zum Vorschein kamen, als würde er die ganze Zeit höhnisch grinsen. Seiner Fähigkeit zu arbeiten tat das natürlich keinen Abbruch, seiner Fähigkeit, Arbeit zu finden, aber durchaus. Da war ihm die Miliz wie die perfekte Lösung vorgekommen, dort lechzte man ja geradezu nach Bewerbern. Sie hatten ihn herumgeschubst und hinter seinem Rücken blöde Bemerkungen gemacht, aber daran war er ja gewöhnt. Und er hatte es ertragen, solange man ihn nur seinen Kopf benutzen ließ.
Und nun saß er hier mitten in der Nacht hinter irgendwelchen Büschen, wurde von Viechern gebissen und beobachtete den Unterstand der Bushaltestelle auf außergewöhnliche Vorkommnisse.
Warum er hier saß oder was mit außergewöhnlichen Vorkommnissen eventuell gemeint sein könnte, hatte man Aron nicht gesagt. Er war einer der Jüngsten im Revier, erst zwanzig, und er fragte sich,
Weitere Kostenlose Bücher