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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Fluss und ging zum nächsten Baum. Zwischen zwei Ästen hing ein Spinnennetz.
    Ganz vorsichtig nahm sie es ab, trug es zwischen den Händen und legte es auf das aufgerissene Fleisch an Leos Oberarm. Kaum kam das Blut mit den silbrigen Fäden in Verbindung, schien es zu stocken. Raisa verbrachte mehrere Minuten damit, noch mehr Spinnennetze zu suchen, sie abzunehmen und auf die Verletzung zu legen, bis die Wunde ganz mit seidigen Fäden überzogen war. Als sie fertig war, hatte die Blutung aufgehört.
    Leo erklärte: »Wir sollten diesem Fluss so lange wie möglich folgen. Die Bäume bieten die einzige Deckung und das Wasser wird unsere Spur verbergen.«
    Das Wasser war flach, am tiefsten Punkt nur knietief.
    Es floss nicht schnell genug, als dass sie sich darauf hätten flussabwärts treiben lassen können. Stattdessen mussten sie waten. Sie waren hungrig und erschöpft, und Leo wusste, dass sie nicht mehr lange so würden weitermachen können.
    Ob die Gefangenen überlebten oder starben, war den Wachen egal, aber Flucht war etwas Unverzeihliches, ein konterrevolutionärer Akt. Flucht verhöhnte nicht nur die Wachmannschaften, sondern das ganze System. Egal, um wen es sich bei den Gefangenen handelte, egal, wie unwichtig sie waren, ihre Flucht machte sie bedeutend. Die Tatsache, dass Leo und Raisa ohnehin schon als großkalibrige Konterrevolutionäre gehandelt wurden, machte aus ihrer Flucht eine Sache von nationaler Bedeutung. Sobald der Zug angehalten war und die Wachen den Toten entdeckt hatten, der in den Drähten hing, waren die Gefangenen bestimmt durchgezählt und der Waggon der Flüchtigen identifiziert worden. Man hatte alle befragt. Falls Antworten ausgeblieben waren, hatte man vielleicht auch ein paar Gefangene erschossen. Leo konnte nur hoffen, dass irgendjemand vernünftig genug gewesen war, sofort die Wahrheit zu sagen. Diese Männer und Frauen hatten schon mehr als genug getan, um ihnen zu helfen. Aber selbst wenn sie alles sagten, war das noch keine Garantie, dass die Wachen nicht an sämtlichen Insassen des Waggons ein Exempel statuieren würden.
    Die Jagd würde entlang der Eisenbahngleise beginnen.
    Sie würden Hunde einsetzen. In jedem Zug gab eine Meute abgerichteter Hunde, die erheblich besser behandelt wurden als die Gefangenen. Wenn der Abstand zwischen der Stelle, wo sie ausgebrochen waren, und dem Punkt, an dem die Suche begonnen hatte, groß genug war, dann würde die Witterung nur schwer aufzunehmen sein. Wenn er bedachte, dass sie nun schon einen dreiviertel Tag auf der Flucht waren, ohne ihre Verfolger zu Gesicht bekommen zu haben, konnte Leo nur annehmen, dass dies der Fall war. Das wiederum bedeutete, dass man Moskau informiert hatte. Die Suche würde ausgeweitet werden. Lastwagen und andere Fahrzeuge würden in Marsch gesetzt und das mögliche Fluchtgebiet in Planquadrate unterteilt werden. Flugzeuge würden den Bereich überfliegen. Die örtlichen Militär- und Sicherheitsstellen würden informiert und ihre Maßnahmen mit denen der nationalen Stellen koordiniert werden. Leo und Raisa würden mit einem Eifer verfolgt werden, der weit über berufliche Pflichterfüllung hinausging. Man würde Belohnungen und Sonderzulagen in Aussicht stellen. Dem Einsatz an Menschen und Maschinen waren keine Grenzen gesetzt.
    Wenn einer sich damit auskannte, dann Leo – er hatte ja selbst schon mit diesen Menschenjagden zu tun gehabt.
    Und genau darin bestand auch ihr einziger Vorteil. Leo wusste, wie der Staat seine Jagden organisierte. Beim NKWD hatte er gelernt, unbemerkt hinter feindlichen Linien zu operieren, und jetzt waren die feindlichen Linien seine eigenen Landesgrenzen. Die Grenzen, für deren Verteidigung er gekämpft hatte. Durch das schiere Ausmaß solcher Suchaktionen waren sie schwerfällig und schlecht zu koordinieren. Sie wurden zentral gelenkt, wodurch sie zwar eine ungeheure Ausdehnung erreichten, die aber gleichzeitig ineffizient war. Und am meisten hoffte Leo, dass sie sich auf die falsche Region konzentrierten. Logisch betrachtet hätten Leo und Raisa sich zur nächsten Grenze aufmachen müssen, in Richtung Finnland. Tatsächlich aber waren sie nach Süden unterwegs, mitten durch Russland bis nach Rostow. In dieser Richtung hatten sie praktisch keine Chance, am Ende frei und in Sicherheit zu sein.
    Da sie jetzt durchs Wasser wateten, kamen sie sehr viel langsamer voran, stolperten oft und fielen hin. Jedes Mal fiel es schwerer, wieder aufzustehen. Nicht einmal die Tatsache, dass

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