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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sie verfolgt wurden, und die damit verbundene Angst hielt sie noch auf den Beinen. Leo hielt die ganze Zeit den Arm über sich, damit die Spinnennetze nicht weggespült wurden. Bislang hatte keiner von ihnen ihre missliche Lage zur Sprache gebracht, so als würde ihr Leben ohnehin nicht mehr lange genug währen, um noch Pläne zu machen. Leo schätzte, dass sie sich etwa 200 Kilometer östlich von Moskau befanden. Sie waren fast acht Stunden im Zug gewesen. Das ließ vermuten, dass sie irgendwo südlich der Stadt Wladimir waren. Wenn das zutraf, dann bewegten sie sich gerade in Richtung Rjasan. Mit dem Auto oder Zug hätte es bis Rostow schon unter normalen Umständen mindestens 24 Stunden nach Süden gedauert. Aber sie hatten weder Geld noch etwas zu essen, waren verletzt und steckten in schmutzigen Kleidern. Und sie wurden von jedem örtlichen und jedem nationalen Sicherheitsapparat im Land gesucht.
    Sie blieben stehen. Vor ihnen durchfloss das Gewässer das Dörfchen eines Bauernkollektivs. Etwa 500 Meter oberhalb der dicht zusammengedrängten Häuser stiegen Leo und Raisa aus dem Wasser. Es war schon spät, die Dämmerung brach herein. Leo sagte: »Ein paar von den Dorfbewohnern arbeiten bestimmt noch auf den Feldern. Wir können uns unbemerkt hineinschleichen und schauen, ob wir etwas zu essen finden.«
    »Willst du etwa stehlen?«
    »Kaufen können wir nichts. Und wenn sie uns sehen, liefern sie uns aus. Für entflohene Häftlinge sind immer Belohnungen ausgesetzt, viel mehr Geld, als diese Leute im ganzen Jahr verdienen.«
    »Leo, du hast zu lange in der Lubjanka gearbeitet. Diese Leute mögen den Staat nicht.«
    »Sie brauchen genauso Geld wie alle anderen. Und sie wollen auch am Leben bleiben wie alle anderen.«
    »Wir haben noch Hunderte von Kilometern vor uns. Allein schaffen wir das nie. Das musst du doch einsehen.
    Wir haben keine Freunde, kein Geld, wir haben gar nichts. Uns bleibt nur übrig, Fremde dazu zu überreden, dass sie uns helfen. Wir müssen sie von unserer Sache überzeugen. Anders geht es nicht. Das ist unsere einzige Chance.«
    »Wir sind Verbannte. Wer immer uns aufnimmt, wird erschossen. Und es träfe nicht nur den, der uns geholfen hat, sondern sein ganzes Dorf. Der Staat würde vermutlich nicht mit der Wimper zucken, sie zu 20 oder 25 Jahren zu verurteilen und alle Bewohner in ein Lager im Norden zu deportieren, einschließlich der Kinder.«
    »Und genau aus diesem Grund werden sie uns auch helfen. Du hast den Glauben an die Menschen in diesem Land verloren, weil du nur von Leuten umgeben warst, die an der Macht waren. Der Staat kommt in diesen Dörfern nicht vor. Er versteht sie nicht und hat kein Interesse an ihnen.«
    »Raisa, das ist das Dissidentengeschwätz aus der Stadt. Es hat nichts mit der Welt da draußen zu tun. Sie müssten verrückt sein, uns zu helfen.«
    »Du hast ein ziemlich kurzes Gedächtnis, Leo. Wie sind wir denen gerade erst entkommen? Indem wir den Häftlingen in unserem Waggon die Wahrheit gesagt haben. Sie haben uns geholfen, alle, ein paar hundert.
    Wahrscheinlich so viele, wie in diesem Dorf leben. Dafür, dass die Gefangenen in unserem Waggon nicht die Wachen alarmiert haben, steht ihnen wahrscheinlich irgendeine Kollektivstrafe bevor. Weshalb haben sie es denn gemacht? Was hast du ihnen geboten?«
    Leo schwieg. Raisa kam zur Sache. »Wenn du diese Menschen bestiehlst, dann bist du ihr Feind, obwohl wir doch eigentlich ihre Freunde sind.«
    »Du willst also einfach in dieses Dorf hineinmarschieren, so als gehörten wir zur Familie, und hallo sagen?«
    »Genauso werden wir es machen.«
    Seite an Seite liefen sie zum Dorfplatz wie zwei Leute, die gerade von der Arbeit heimkehrten und hierhin gehörten. Männer, Frauen und Kinder versammelten sich um sie und bildeten einen Kreis. Ihre Häuser waren aus Lehm. Ihre landwirtschaftlichen Geräte waren seit 40 Jahren veraltet. Sie mussten nichts weiter tun, als Leo und Raisa dem Staat auszuliefern, und sie würden reich belohnt werden. Wie konnte man da widerstehen?
    Diese Leute hatten gar nichts.
    Raisa wandte sich an den Kreis feindseliger Gesichter:
    »Wir sind Verurteilte. Wir sind aus einem Zug entflohen, der uns nach Kolyma bringen sollte. Da sollten wir umkommen. Jetzt werden wir gesucht. Wir brauchen eure Hilfe. Wir bitten nicht für uns selbst. Uns wird man sowieso irgendwann fangen und umbringen. Aber bevor wir sterben, müssen wir eine Aufgabe erfüllen.
    Bitte lasst mich erklären, warum wir eure Hilfe

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