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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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brauchen. Wenn euch das, was wir zu sagen haben, nicht gefällt, dann solltet ihr euch nicht mit uns abgeben.«
    Ein Mann Mitte vierzig trat vor, er schien sich sehr wichtig zu nehmen. »Als Vorsitzender dieser Kolchose ist es meine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass wir am besten daran täten, die beiden auszuliefern.«
    Aus den Augenwinkeln beobachtete Raisa die anderen Dorfbewohner. Hatte sie sich geirrt? Hatte der Staat diese Dörfer infiltriert und in ihre Führung seine Spione und Informanten eingeschmuggelt? Ein Mann meldete sich zu Wort:
    »Und was willst du dann mit der Belohnung machen, Pjotr? Willst du die auch dem Staat abliefern?«
    Es gab Gelächter. Beschämt errötete der Vorsitzende, und Raisa erkannte erleichtert, dass dieser Mann nur eine Witzfigur war, eine Marionette, die keiner ernst nahm. Aus den hinteren Reihen rief eine Frau: »Gebt ihnen was zu essen.«
    Als sei ein Orakel verkündet worden, war die Diskussion vorbei. Sie wurden ins größte Haus geführt. Im Wohnraum wurde Essen zubereitet, und man gab ihnen Schalen mit Wasser. Das Feuer wurde angefacht.
    Währenddessen stieg die Zahl ihrer Zuhörer, bis das ganze Haus voller Menschen war. Die Kinder hockten sich zwischen die Beine der Erwachsenen und glotzen Leo und Raisa an, als seien sie im Zoo. Aus einem anderen Haus wurde frisches, noch warmes Brot gebracht. Sie aßen vor dem Feuer, ihre nassen Kleider dampften. Als einer der Männer sich entschuldigte, man könne ihnen nichts zum Wechseln anbieten, nickte Leo nur, so verwirrt war er über ihre Großzügigkeit.
    Alles, was er ihnen zu bieten hatte, war eine Geschichte. Als er das Brot und das Wasser vertilgt hatte, stand er auf.
    Raisa beobachtete die Männer, Frauen und Kinder, wie sie Leo zuhörten. Er fing mit dem Mord an Arkadi an, dem kleinen Jungen aus Moskau, den zu vertuschen man ihn gezwungen hatte. Er erzählte, wie er sich schämte, dass er der Familie des Jungen erklärt hatte, es sei ein Unfall gewesen. Dann kam er darauf zu sprechen, warum er aus dem MGB geworfen und nach Wualsk geschickt worden war. Er schilderte seine Verblüffung, als er herausfand, dass noch ein Kind auf beinahe die gleiche Weise umgebracht worden war. Als seine Zuhörer erfuhren, dass landauf, landab solche Morde begangen wurden, verschlug es ihnen den Atem, als habe er ihnen einen Zaubertrick vorgeführt. Nachdem Leo sie vorgewarnt hatte, was er gleich erzählen würde, schickten einige Eltern ihre Kinder hinaus.
    Noch bevor er mit seiner Geschichte fertig war, hatten seine Zuhörer angefangen, darüber zu spekulieren, wer wohl dafür verantwortlich sein konnte. Keiner von den Leuten konnte sich vorstellen, dass diese Morde das Werk eines Menschen waren, der Arbeit und eine Familie hatte. Die Männer in der Runde konnten kaum glauben, dass man den Mörder nicht sofort hatte identifizieren können. Sie waren sich allesamt sicher, dass sie das Monster auf den ersten Blick würden erkennen können. Leo sah sich um, und ihm wurde klar, dass die Weltsicht dieser Menschen gerade erschüttert worden war. Er entschuldigte sich dafür, ihnen überhaupt von der Existenz dieses Mörders erzählt zu haben. Dann skizzierte er anhand der Namen größerer Städte den Wirkungskreis des Mannes entlang der Eisenbahnlinien. Das Töten war in sein normales Leben eingebettet, und ein solches normales Leben brachte ihn nicht in Dörfer wie dieses.
    Trotz all dieser Beruhigungen fragte sich Raisa, ob die Menschen hier wohl auch weiterhin so vertrauensselig und gastfreundlich sein würden wie bisher. Würden sie noch einmal einem Fremden etwas zu essen geben?
    Oder würden sie von jetzt an denken, dass jeder Fremde ein dunkles Geheimnis hatte, das sie nicht sehen konnten? Der Preis für ihre Geschichte war die Unschuld ihrer Zuhörer gewesen. Nicht, dass sie nicht auch schon Grausamkeit und Tod miterlebt hätten.
    Aber dass der Mord an einem Kind jemandem Vergnügen bereiten konnte, hätten sie sich nie vorstellen können.
    Draußen war es dunkel geworden. Leo sprach nun schon eine ganze Weile, länger als eine Stunde. Er kam gerade zum Ende seiner Geschichte, als ein Kind ins Haus gerannt kam. »In den Bergen im Norden habe ich Lichter gesehen. Das sind Laster. Sie kommen her.«
    Alle sprangen auf. In den Gesichtern um ihn herum las Leo, dass diese Lastwagen nur von einem geschickt worden sein konnten, nämlich dem Staat. Er fragte:
    »Wie viel Zeit haben wir denn noch?«
    Schon allein mit dieser Frage hatte er sich auf

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