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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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ihre Seite gestellt und ein Verhältnis zwischen ihnen vorausgesetzt, das es eigentlich gar nicht gab. Diese Leute konnten sie beide doch ganz einfach ausliefern und ihre Belohnung einfordern. Aber es schien, dass er der Einzige im Raum war, der auf so eine Idee kam. Selbst der Vorsitzende hatte sich der kollektiven Entscheidung unterworfen, ihnen zu helfen.
    Einige der Erwachsenen eilten aus dem Haus, möglicherweise, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen. Die anderen fragten den Jungen aus.
    »Welcher Berg?«
    »Wie viele Laster?«
    »Wie lange her?«
    Es waren drei Lastwagen, der Junge hatte drei Scheinwerferpaare gesehen, von der Ecke seines Zuhauses.
    Sie kamen von Norden und waren nur noch wenige Kilometer entfernt. In ein paar Minuten würden sie da sein.
    In den Häusern konnte man sich nicht verstecken. Sie enthielten kaum Hausrat, die Möbel waren nicht der Rede wert. Und die Suche würde gründlich sein, sogar brutal gründlich. Wenn es irgendwo ein Versteck gab, dann würden sie es ausfindig machen. Leo wusste, dass der ganze Stolz der Wachmannschaft auf dem Spiel stand. Raisa umfasste seine Arme.
    »Wir könnten doch weglaufen. Zuerst müssen sie doch das Dorf durchsuchen. Wenn wir so tun, als wären wir nie dagewesen, kommen wir vielleicht fort und können uns im Gelände verstecken. Es ist dunkel.«
    Leo schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. Seine Gedanken wanderten zurück zu Anatoli Brodsky. So musste es für ihn gewesen sein, als er sich umgedreht und auf dem Hügel Leo gesehen hatte, als er erkannt hatte, dass das Netz sich um ihn zusammengezogen hatte. Leo sah es wieder vor sich, wie der Mann da stand und ihn einen Moment lang angestarrt hatte. Er war unfähig gewesen, etwas anderes zu tun als anzuerkennen, dass man ihn gefangen hatte. Damals war Leo schnell gewesen. Aber diesen Mannschaften davonzurennen, war unmöglich. Sie waren ausgeruht und für die Jagd ausgerüstet. Sie hatten Weitschussgewehre, Fernrohre, Leuchtraketen und Spürhunde.
    Leo wandte sich an den kleinen Jungen, der die Laster gesehen hatte. »Ich brauche deine Hilfe.«

Am selben Tag
    Nervös und mit zitternden Händen kauerte sich der Junge in der fast völligen Finsternis auf die Mitte der Straße und schüttete ein Säckchen Getreide vor sich aus. Er hörte, wie die Laster näher kamen, die Reifen schleuderten Staub auf. Sie waren nur noch ein paar hundert Meter weit weg und kamen schnell näher. Der Junge schloss die Augen und hoffte, dass sie ihn sehen würden. Fuhren sie am Ende vielleicht zu schnell, um überhaupt noch anhalten zu können? Er hörte das Kreischen von Bremsen. Als er die Augen öffnete und sich umwandte, war er von einem hellen Lichtkegel erfasst.
    Er hob die Arme. Der Laster kam schlingernd zum Stehen, als die Stoßstange fast schon das Gesicht des Jungen berührte. Die Tür der Fahrerkabine wurde geöffnet.
    Ein Soldat rief heraus: »Was zum Teufel machst du da?«
    »Mein Sack ist geplatzt.«
    »Verschwinde von der Straße!«
    »Mein Vater bringt mich um, wenn ich nicht alles wieder einsammle.«
    »Und ich bringe dich um, wenn du nicht sofort deinen Hintern bewegst.«
    Der Junge war unschlüssig, was er tun sollte. Er las weiter Getreidekörner auf. Da hörte er ein metallisches Klicken. War das etwa ein Gewehr? Er hatte noch nie ein Gewehr gesehen. Er wusste nicht, wie die sich anhörten. Voller Panik hob er weiter Körner auf und tat sie in den Sack. Sie konnten ihn doch nicht erschießen.
    Er war doch nur ein Junge, der das Korn seines Vaters auflas. Dann fiel ihm die Geschichte wieder ein, die der Fremde erzählt hatte. Es wurden laufend Kinder umgebracht. Vielleicht waren das dieselben Männer. Er klaubte so viele Körner auf, wie er konnte, nahm das Säckchen und rannte auf das Dorf zu. Die Laster folgten ihm, jagten ihn und ließen die Hupen ertönen, worauf er noch schneller lief. Er hörte, wie die Soldaten lachten. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gelaufen.
    Leo und Raisa verbargen sich an dem einzigen Ort, den die Soldaten nicht durchsuchen würden: unter deren eigenen Lastwagen. Während der Junge die Soldaten abgelenkt hatte, war Leo unter den zweiten Laster gekrochen, Raisa unter den dritten. Weil sie nicht wussten, wie lange sie sich würden festhalten müssen, vielleicht eine Stunde oder noch länger, hatte Leo sich und ihr die Hände mit Fetzen von seinem Hemd umwickelt, um den Schmerz zu lindern.
    Als die Lastwagen anhielten,

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