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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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der Stadt, während er selbst im Zentrum seine Dienstadresse hatte. Vordergründig diente das Arrangement dazu, dass er sich mit Geliebten vergnügen konnte, aber tatsächlich leistete er sich nur sehr selten außereheliche Affären.
    Nachdem Leo an den Ural verbannt worden war, hatte Wassili darum ersucht, in Leos und Raisas Wohnung ziehen zu dürfen, Nr. 124. Der Wunsch war ihm erfüllt worden. Die ersten Tage hatte Wassili genossen. Er hatte seine Frau losgeschickt, um in den Speztorgi etwas Anständiges zu essen und zu trinken einzukaufen.
    Dann hatte er in seiner neuen Wohnung ein Fest unter Kollegen abgehalten, ohne Ehefrauen. Seine neuen Untergebenen aßen und tranken und beglückwünschten ihn zu seinem Erfolg. Einige Männer, die vorher unter Leo gearbeitet hatten, berichteten nun an ihn. Aber trotz dieser erfreulichen Ironie des Schicksals hatte er das Fest nicht genossen. Er fühlte sich leer, weil er niemanden mehr hatte, den er hassen konnte, gegen den er Ränke schmieden konnte. Leos Beförderungen, seine Leistungen und seine Popularität konnten ihn nicht mehr aufregen. Es gab noch andere Männer, mit denen Wassili im Wettstreit lag, aber das war nicht dasselbe.
    Er stand aus dem Bett auf und beschloss, sich froh zu trinken. Er goss sich einen ordentlichen Schluck Wodka ein, glotzte dann aber nur das Glas an und schwenkte es hin und her. Er konnte nichts trinken, schon vom Geruch wurde ihm übel. Er stellte das Glas ab.
    Leo war tot. Bald schon würde Wassili die offizielle Bestätigung erhalten, dass die beiden Gefangenen ihr Ziel nicht erreicht hatten. Wie so viele waren sie unterwegs gestorben, weil sie in einen Streit über Schuhe oder Klamotten oder Essen oder sonst was geraten waren.
    Die endgültige Vernichtung eines Mannes, der ihn erniedrigt hatte, dessen schiere Existenz für Wassili eine ständige Peinigung gewesen war. Aber warum vermisste er ihn jetzt?
    Es klopfte an der Tür. Er hatte schon damit gerechnet, dass der MGB jemanden vorbeischicken würde, um nachzuprüfen, ob er auch wirklich krank war. Er ging zur Tür und öffnete. Da standen zwei junge Beamte.
    Der eine sagte: »Melde, dass zwei Gefangene geflohen sind.«
    »Leo?« Kaum dass er den Namen ausgesprochen hatte, merkte er, wie der dumpfe Schmerz in ihm nachließ.
    Die Beamten nickten.
    Wassili ging es schlagartig besser.

200 Kilometer südöstlich von Moskau
Am selben Tag
    Halb liefen sie, halb marschierten sie, und ständig blickten sie sich um. Ihre jeweilige Geschwindigkeit hing davon ab, ob gerade die Angst oder die Erschöpfung Oberhand gewonnen hatte. Das Wetter war auf ihrer Seite, milder Sonnenschein und eine dünne Wolkendecke, nicht zu heiß, jedenfalls verglichen mit dem Innern des Waggons. Am Stand der Sonne erkannten Leo und Raisa, dass es später Nachmittag sein musste, aber die genaue Zeit wussten sie nicht. Leo konnte nicht sagen, wo oder warum er seine Uhr verloren oder ob man sie ihm vielleicht gestohlen hatte. Er schätzte, dass sie vor den Wachen höchstens vier Stunden Vorsprung hatten. Grob geschätzt betrug ihre Geschwindigkeit acht Kilometer pro Stunde, während der Zug mit kaum mehr als fünfzehn Stundenkilometern unterwegs war – das ergab im Idealfall eine Distanz von etwa 80 Kilometern zwischen ihnen und dem Zug. Es konnte aber auch sein, dass die Wachen ihre Flucht schon viel früher bemerkt hatten.
    Jetzt kamen sie aus dem Wald in offenes Gelände.
    Ohne die Deckung der Bäume waren sie ringsum meilenweit zu sehen, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren, auch wenn sie ungeschützt waren. Am Ende eines Abhangs sahen sie einen kleinen Fluss, änderten die Richtung und beschleunigten ihre Schritte. Es war das erste Gewässer, an dem sie vorbeikamen. Als sie den Fluss erreichten, ließen sie sich auf die Knie fallen und tranken gierig mit den Händen. Als das nicht reichte, tauchten sie die Köpfe ins Wasser. Leo scherzte: »Wenigstens sterben wir sauber.«
    Raisa lächelte nicht. Es reichte nicht, dass sie ihr Bestes taten, diesen Mann zu stoppen. Niemand würde ihnen für den Versuch dankbar sein. Sie mussten einfach Erfolg haben.
    Raisa besah sich Leos Wunde genauer, die sich nicht schloss und nicht aufhörte zu bluten. Zu viel Fleisch und Haut war weggerissen. Der Hemdfetzen, mit dem sie sie verbunden hatte, war blutdurchtränkt.
    Leo schälte ihn ab. »Ich halte es schon aus.«
    »Die Wunde hinterlässt eine starke Witterung für die Hunde.«
    Raisa stieg aus dem

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