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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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im Magen. Bestenfalls stand er als naiv da, schlimmstenfalls als inkompetent. Er hatte seinen Gegner unterschätzt, und in einem untypischen Wutanfall wollte er dem schon umgeworfenen Tisch auch noch einen Tritt verpassen, hielt sich aber zurück. Er hatte gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Ein junger Beamter eilte ins Zimmer, vermutlich wollte er seine Hilfsbereitschaft, seinen Eifer demonstrieren. Mit einer Handbewegung scheuchte Leo ihn weg. Er wollte allein sein. Er nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu beruhigen, starrte aus dem Fenster auf den Schnee, der nun auf die Stadt fiel. Was war schiefgelaufen? Offenbar hatte der Verdächtige die Agenten bemerkt, die ihn beschatteten, und daraufhin seine Flucht geplant. Da er Dokumente verbrannt hatte, wollte er damit ganz offensichtlich Material vernichten, das entweder auf seine Spionagetätigkeit oder auf seinen Zielort hinwies. Leo war sich sicher, dass Brodsky einen Fluchtplan hatte, eine Möglichkeit, außer Landes zu kommen. Er musste irgendein Teilchen dieses Plans finden.
    Die Nachbarn waren ein Rentnerehepaar in den Siebzigern, das bei ihrem verheirateten Sohn, dessen Frau und den zwei Kindern wohnte. Sechs Familienmitglieder in zwei Zimmern, kein ungewöhnlicher Schnitt. Gegenwärtig saßen alle sechs nebeneinander in der Küche, hinter ihnen war ein junger Beamter postiert, der sie einschüchtern sollte. Sie wussten, dass sie alle in das Vergehen eines anderen mit hineingezogen worden waren. Leo konnte es sehen. Auch ihre Angst konnte er sehen. Er wischte diese irrelevanten Gedanken beiseite – schließlich hatte er sich schon genug Sentimentalitäten geleistet – und trat an den Tisch.
    »Anatoli Brodsky ist ein Verräter. Wenn ihr ihm in irgendeiner Weise helft, und sei es nur, indem ihr Dinge verschweigt, dann werdet ihr wie Mittäter behandelt.
    Es liegt nun bei euch, eure Loyalität zum Staat zu beweisen. Es ist nicht an uns, eure Schuld zu beweisen.
    Die setzen wir für den Moment voraus.«
    Der Älteste, der Großvater und zweifellos ein Überlebenskünstler, beeilte sich, ihnen alles zu sagen, was er wusste. Indem er Leos Wortwahl aufgriff, gab er an, der Verräter sei an diesem Morgen ein wenig früher zur Arbeit gegangen, aber mit demselben Köfferchen, im selben Mantel und Hut. Der Alte wollte nicht unkooperativ erscheinen, deshalb trug er allerlei Annahmen und Meinungen vor, wo der Verräter stecken könnte, aber Leo merkte, dass das nur verzweifelte Mutmaßungen waren. Zum Abschluss erklärte der Großvater, wie wenig alle in der Familie Brodsky als Nachbarn hätten leiden können und wie sehr sie ihm misstraut hätten.
    Und übrigens sei die Einzige, die ihn gemocht habe, Zina Morosowna, die Dame unter ihnen.
    Zina Morosowna war in den Fünfzigern und zitterte wie ein Kind, was sie erfolglos durch Rauchen zu verbergen suchte. Als Leo hereinkam, stand sie neben der billigen Reproduktion eines berühmten Stalin-Porträts – glatte Haut, weise Augen, den Füllfederhalter in der Hand –, das augenfällig über dem Kamin hing. Vielleicht dachte sie, das könne sie schützen. Leo gab sich nicht die Mühe, sich vorzustellen oder seinen Ausweis zu zeigen, sondern machte, um sie zu verunsichern, sofort Druck. »Wie kommt es, dass Sie so gut mit Anatoli Brodsky befreundet sind, wo jeder andere in diesem Haus ihm aus dem Weg ging und misstraute?«
    Zina war überrumpelt. Ihre ganze Besonnenheit war wie weggeblasen von der Wut über so eine Lüge. »Jedermann in diesem Haus hat Anatoli gemocht. Er war ein guter Mann.«
    »Brodsky ist ein Spion. Und Sie nennen ihn gut? Ist Verrat vielleicht eine Tugend?«
    Zina, die ihren Fehler zu spät bemerkt hatte, versuchte ihre Worte abzuschwächen. »Ich habe nur gemeint, dass er immer sehr darauf geachtet hat, Lärm zu vermeiden. Er war höflich.«
    Hingestotterte, irrelevante Einlassungen. Leo ignorierte sie. Er holte einen Notizblock hervor und protokollierte ihre unbedachten Worte in großen, fetten Buchstaben.
    ER WAR EIN GUTER MANN.
    Er malte es deutlich auf, damit sie genau erkennen konnte, was er schrieb. Die Abschreibung der nächsten fünfzehn Jahre ihres Lebens. Diese wenigen Worte waren mehr als genug, um sie als Kollaborateurin zu verurteilen. Als politische Gefangene würde sie für sehr lange Zeit verurteilt werden. Mit über 50 hatte sie kaum eine Chance, den Gulag zu überleben. Keine dieser Drohungen musste er laut aussprechen. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern.
    Zina trat den

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