Kind 44
ihr Leben.
Raisa wusste nicht, wie lange sie festgebunden unter dem Lastwagen gehangen hatte. Es kam ihr endlos vor.
Sie hatte mitgehört, auf welche Art die Soldaten ihre Durchsuchung durchführten. Möbel wurden umgestoßen, Töpfe ausgeschüttet, Sachen zertrümmert. Sie hatte die Hunde bellen gehört und Lichtblitze gesehen, als Leuchtraketen abgefeuert wurden. Jetzt kehrten die Soldaten zu den Lastwagen zurück. Befehle wurden gebrüllt und die Hunde wieder auf die Ladefläche gebracht. Gleich würden sie abfahren.
Aufgeregt erkannte sie, dass der Plan funktioniert hatte. Der Motor wurde angelassen. Die Achse zitterte, in ein paar Sekunden würden sie sich drehen, und Raisa war noch an ihr festgebunden. Sie musste sich irgendwie befreien. Aber ihre Handgelenke waren gefesselt, und die Knoten waren mit den tauben Händen und den gefühllosen Fingern nur schwer zu lösen. Raisa rackerte sich ab. Jetzt stiegen die letzten Soldaten auf den Laster. Die Dorfbewohner hatten sich um die Fahrzeuge versammelt, und Raisa hatte sich immer noch nicht befreit. Gleich würden die Wagen abfahren. Sie krümmte sich und zog mit den Zähnen an dem Knoten. Er löste sich, und mit einem dumpfen Schlag fiel sie auf den Rücken, doch das Geräusch wurde vom Röhren der Motoren übertönt. Der Laster fuhr ab, und sie lag mitten auf der Straße. Im Licht des Dorfes würden die Soldaten auf der Ladefläche sie sehen. Sie konnte nichts dagegen unternehmen.
Da traten die Dorfbewohner vor, scharten sich zusammen und umringten sie direkt hinter dem abfahrenden Wagen. Den zurückblickenden Soldaten fiel nichts Ungewöhnliches auf, denn Raisa war zwischen den Beinen der Leute verschwunden.
Auf der Straße zusammengerollt wartete sie ab.
Schließlich hielt ihr ein Mann die Hand hin. Sie war in Sicherheit. Aber Leo war noch nicht da. Er konnte nicht riskieren abzuspringen, bevor die Laster im Dunkeln waren. Der Fahrer des dritten Wagens würde ihn sonst entdecken. Vielleicht wartete er ab, bis sie an eine Kurve kamen. Raisa war unbesorgt, Leo würde schon auf sich aufpassen. Schweigend warteten sie. Raisa nahm die Hand des Jungen, der ihnen geholfen hatte. Und es dauerte nicht lange, da hörten sie die Schritte eines Mannes, der auf sie zugelaufen kam.
Moskau
Am selben Tag
Obwohl mittlerweile viele 100 Soldaten und Agenten nach den Flüchtigen suchten, war Wassili überzeugt, dass keiner von ihnen erfolgreich sein würde. Der Staat hatte zwar fast alle Vorteile auf seiner Seite, aber sie waren hinter einem Mann her, der gelernt hatte, seiner Entdeckung zu entgehen und sich in feindlichem Gebiet zu bewegen. In einigen Abteilungen war man der Überzeugung, dass Leo und Raisa Hilfe von Verrätern in der Wachmannschaft oder von anderen Leuten gehabt haben mussten, die an einem bestimmten Punkt der Bahnstrecke gewartet und den Ausbruch inszeniert hatten. Dem widersprachen allerdings die Geständnisse der Mitgefangenen aus Leos Waggon. Die hatten auch unter brutalen Verhörmethoden beteuert, die beiden seien allein geflohen. Das war nicht, was die Wachen hören wollten, es ließ sie schlecht aussehen. Bislang hatte man die Suche auf mögliche Fluchtrouten hin zur skandinavischen Grenze, der nördlichen Küstenlinie und der Ostsee konzentriert. Man setzte voraus, dass Leo versuchen würde, sich in ein anderes Land durchzuschlagen, vielleicht mit einem Fischerboot. Wenn er erst einmal im Westen war, würde er Kontakt zur dortigen Regierung suchen, die ihm im Austausch für Informationen Hilfe und Zuflucht gewähren würde. Deshalb wurde seiner Ergreifung allerhöchste Dringlichkeit beigemessen. Leo war in der Lage, der Sowjetunion erheblichen Schaden zuzufügen.
Wassili hielt nichts von der Idee, dass man Leo bei seiner Flucht geholfen hatte. Es war schlichtweg unmöglich, dass jemand hätte wissen können, in welchem Zug die Gefangenen sein würden. Ihre Verfrachtung in einen Gulag war in aller Eile, ohne vorherige Planung und auf den letzten Drücker erfolgt. Er selbst hatte sie ohne den notwendigen Papierkram oder ein ordentliches Verfahren durchgepaukt. Der Einzige, der ihnen bei ihrer Flucht hätte helfen können, war er. Und egal, wie verrückt die Idee war, damit bestand zumindest die Möglichkeit, dass man ihm die Schuld in die Schuhe schieben würde. Es sah ganz so aus, dass Leo in der Lage war, ihn am Ende doch noch fertigzumachen.
Bislang hatten die Suchmannschaften von den beiden nicht die geringste Spur gefunden. Weder Leo noch
Weitere Kostenlose Bücher