Kind 44
Raisa hatten in dieser Gegend Freunde oder Verwandte, eigentlich hätten sie also auf sich allein gestellt, zerlumpt und mittellos sein müssen. Als er das letzte Mal mit Leo gesprochen hatte, hatte der nicht einmal mehr den eigenen Namen gewusst, aber offenbar war er jetzt wieder bei Sinnen. Wassili musste herausfinden, wo Leo hinwollte. Das war der beste Weg, ihn zu stellen, viel besser, als willkürlich das ganze Land nach ihm abzugrasen. Wassili war es nicht gelungen, seinen Bruder, den er selbst denunziert hatte, wieder einzufangen.
Das durfte ihm bei Leo nicht noch einmal passieren.
Noch so eine Panne würde er nicht überleben.
Er glaubte nicht daran, dass Leo darauf aus war, in den Westen zu fliehen. Würde er nach Moskau zurückkehren? Immerhin lebten hier seine Eltern. Aber die konnten ihm nicht helfen, und sobald er sich auf ihrer Schwelle blicken ließ, würden sie es mit dem Leben bezahlen. Sie wurden mittlerweile von bewaffneten Beamten überwacht. Vielleicht wollte Leo Rache, vielleicht würde er kommen, um Wassili zu töten. Geschmeichelt verweilte Wassili kurz bei dieser Vorstellung, dann verwarf er sie wieder. Leos Abneigung ihm gegenüber war ihm nie persönlich vorgekommen. Niemals würde er das Leben seiner Frau für einen Racheakt riskieren. Nein, Leo hatte etwas Konkretes vor, und die Hinweise darauf verbargen sich in den Seiten seiner erbeuteten Notizen.
Wassili studierte den Stapel Dokumente, die Leo zusammen mit einem örtlichen Milizoffizier zusammengetragen hatte, den er überredet hatte, ihm zu helfen.
Es gab Fotos von ermordeten Kindern und Zeugenaussagen. Es gab Gerichtsakten über verurteilte Verdächtige. Während seines Verhörs hatte Leo sich von seinen Nachforschungen distanziert, aber Wassili wusste, dass das eine Lüge war. Leo war ein Überzeugungstäter, und auch von seiner übergeschnappten Theorie war er überzeugt. Aber wovon eigentlich ganz genau? Dass ein einziger Mörder für all diese sinnlosen Verbrechen verantwortlich war? Morde, deren Tatorte sich über mehrere 100 Kilometer und über 30 Städte erstreckten?
Abgesehen davon, dass diese Theorie schon an sich verrückt war, bedeutete sie, dass Leo überallhin unterwegs sein konnte. Wassili konnte sich kaum einen der Orte aussuchen und dann einfach abwarten. Frustriert nahm er sich noch einmal die Karte vor, auf der jeder der angeblichen Morde markiert und durchnummeriert war.
44. Wassili tippte mit dem Finger auf die Zahl. Er nahm den Telefonhörer.
»Holen Sie mir den Genossen Fjodor Andrejew.«
Seit Wassili befördert worden war, hatte man ihn auch mit einem eigenen Büro belohnt. Es war zugegeben nur ein kleiner Raum, auf den er aber trotzdem immens stolz war, so als hätte er sich jeden Quadratmeter im Kampf erobert. Es klopfte an der Tür. Fjodor Andrejew kam herein, nun einer von Wassilis Mitarbeitern. Ein jüngerer Mann, loyal, arbeitsam und nicht zu helle, mit einem Wort, der perfekte Untergebene. Er war nervös.
Wassili lächelte und bot ihm einen Platz an. Fjodor setzte sich.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Natürlich, Genosse.«
»Ist Ihnen bekannt, dass Leo Demidow auf der Flucht ist?«
»Jawohl. Das habe ich gehört.«
»Was wissen Sie über die Hintergründe von Leos Verhaftung?«
»Nichts.«
»Wir haben geglaubt, dass er für westliche Regierungen arbeitet und Informationen sammelt – also spioniert. Aber es stellt sich heraus, dass das gar nicht stimmt. Wir haben uns geirrt. Leo hat uns im Verhör nichts verraten. Erst jetzt habe ich herausgefunden, an was für einer Sache er dran war.«
Fjodor stand auf und starrte die Unterlagen auf dem Tisch an. Er hatte sie schon einmal gesehen. Da hatten sie an Leos Brust geklebt. Fjodor fing an zu schwitzen.
Er beugte sich vor, so als studiere er die Dokumente zum ersten Mal, und versuchte sein Zittern zu unterdrücken. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Wassili aufgestanden war und jetzt neben ihm stand.
Er starrte ebenfalls auf die Seiten, so als würden sie gemeinschaftlich an der Sache arbeiten. Wassili fuhr mit dem Finger langsam über die Karte und tippte schließlich auf Moskau. 44.
Fjodor wurde übel. Er wandte den Kopf, nur um festzustellen, dass Wassilis Gesicht ganz nah an seinem war.
»Fjodor, wir wissen, dass Leo kürzlich in Moskau war.
Mittlerweile glaube ich, dass er gar nicht spionieren wollte, sondern dass die Reise Teil seiner Nachforschungen war. Verstehen Sie, er glaubt, dass einer
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