Kind 44
müssen oder der sich nicht hätte vorstellen können, dass sich die Miliz in der Verfolgung des Mörders als untauglich erwiesen hatte. Diese Leute hatten sich noch nie wegen Streitigkeiten an die Miliz oder an irgendeine andere Obrigkeit gewandt. Sie hatten sich immer auf sich selbst verlassen. Und hier war es genauso, außer dass es diesmal um das Leben vieler Kinder ging.
Gemeinsam hatten sie darüber beraten, wie man die beiden nach Süden schaffen könnte. Einer der Gäste war Lastwagenfahrer und transportierte Güter zwischen Moskau und Städten wie Samara und Charkow.
Charkow lag ungefähr 300 Kilometer nördlich von Rostow, eine halbe Tagesreise mit dem Auto. Sie hatten entschieden, dass es zu riskant war, die beiden nach Rostow zu bringen, weil der Fahrer da offiziell nichts zu tun hatte. Aber in die Nähe von Schachty, das nur kurz vor Rostow lag, war er bereit, sie zu fahren. Da konnte er seinen Umweg leicht damit erklären, dass er Verwandte besuchte. Und ebendiese Verwandten würden, wenn sie erst die Geschichte gehört hatten, bestimmt gern bereit sein, Leo und Raisa zu helfen, in die Stadt zu kommen.
Sie würden mindestens anderthalb Tage in dieser Kiste eingesperrt sein, in völliger Finsternis. Der Fahrer hatte Bananen geladen, Luxusgüter für die Speztorgi. Die Kiste stand im hinteren Teil des Lasters, eingeklemmt zwischen anderen, die alle wertvolle Früchte enthielten. Es war heiß, und die Fahrt war unbequem. Alle zwei oder drei Stunden machte der Fahrer Halt, räumte die Kisten über ihnen beiseite und ließ seine menschliche Fracht die Glieder strecken und sich am Straßenrand erleichtern.
In der Kiste saßen sie sich in völliger Finsternis mit überkreuzten Beinen gegenüber, jeder in seine Ecke.
Raisa fragte: »Vertraust du ihm?«
»Wem?«
»Dem Fahrer.«
»Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast doch einen Grund, warum du das fragst.«
»Von all den Leuten, die sich die Geschichte angehört haben, war er der Einzige, der keine Fragen hatte. Es schien ihn gar nicht zu jucken. Die anderen waren ganz aufgewühlt, er nicht. Er kommt mir so glatt vor, so pragmatisch und gefühllos.«
»Er ist ja nicht gezwungen worden, uns zu helfen. Und ganz bestimmt kann er nicht zu seiner Familie und seinen Freunden zurück, wenn er uns verrät.«
»Er könnte doch eine Geschichte erfinden. Es gab eine Straßensperre. Wir sind geschnappt worden. Er hat noch versucht, uns zu helfen, aber da war nichts zu machen.«
»Was schlägst du also vor?«
»Beim nächsten Halt solltest du ihn überwältigen und fesseln und den Laster selbst fahren.«
»Ist das dein Ernst?«
»Die einzige Möglichkeit, wirklich absolut sicher - zugehen, ist, dass wir den Wagen übernehmen. Dann hätten wir seine Papiere. Wir hätten unser Leben wieder selbst in der Hand. Wir wären wieder Herr der Lage. So sind wir doch hilflos. Wir wissen nicht mal, wo er uns hinbringt.«
»Du warst doch diejenige, die mir beigebracht hat, bei Fremden an das Gute zu glauben.«
»Dieser Mann ist nicht wie die anderen. Er kommt mir irgendwie ehrgeizig vor. Den ganzen Tag fährt er Luxusgüter durch die Gegend. Der muss sich doch denken, das will ich auch. Die schönen Kleider und die erlesenen Speisen. Dann wird ihm klar, dass wir die Gelegenheit sind. Er weiß, was wir wert sind. Und er weiß auch, welchen Preis er bezahlt, wenn er mit uns erwischt wird.«
»Ich bin der Letzte, der so etwas sagen sollte, Raisa, aber du redest über einen unschuldigen Mann. Einen, der offensichtlich sein Leben riskiert, nur um uns zu helfen.«
»Ich rede darüber, dass wir Rostow um jeden Preis erreichen müssen.«
»Aber genauso fängt es doch an! Du hast eine Sache, an die du glaubst. Eine Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Und schon bald ist es auch eine Sache, für die es sich zu töten lohnt. Schon bald ist es eine Sache, für die man auch Unschuldige töten darf.«
»Wir müssen ihn ja nicht umbringen.«
»Doch, das müssen wir. Wir können ihn nicht einfach gefesselt am Straßenrand liegen lassen. Da wäre das Risiko doch noch viel größer. Entweder bringen wir ihn um oder wir vertrauen ihm. Raisa, genauso fängt es an.
Diese Leute haben uns zu essen gegeben, uns Zuflucht geboten und uns durch die Gegend gefahren. Wenn wir uns jetzt gegen sie wenden und nur zur Sicherheit einen ihrer Freunde töten, dann wäre ich wieder genau derselbe Mensch, den du in Moskau so verachtet hast.«
Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte
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