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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Rückzug in eine Zimmerecke an, drückte ihre Zigarette aus, bereute es sofort und zündete sich eine neue an. »Ich weiß nicht, wo Anatoli hin ist, aber ich weiß, dass er keine Familie hat. Seine Frau ist im Krieg umgekommen. Sein Sohn ist an Tuberkulose gestorben. Besuch hatte er fast nie. Soweit ich es mitbekommen habe, hatte er nur wenige Freunde ...«
    Sie hielt inne. Anatoli war ihr Freund gewesen. Viele Nächte hatten sie miteinander verbracht, hatten zusammen gegessen und getrunken. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie hoffte, er würde sich vielleicht in sie verlieben, aber er hatte kein Interesse gezeigt. Er war nie über den Verlust seiner Frau hinweggekommen.
    Versonnen blickte sie Leo an.
    Der ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich will wissen, wo er ist. Seine tote Frau und sein toter Sohn sind mir schnurz. Seine Lebensgeschichte interessiert mich nicht, es sei denn, sie hat damit zu tun, wo er sich gerade befindet.«
    Ihr Leben stand auf dem Spiel – und es gab nur einen Weg zu überleben. Aber konnte sie einen Mann verraten, den sie liebte? Zu ihrer eigenen Überraschung fiel die Entscheidung schneller, als sie vermutet hatte.
    »Anatoli blieb immer für sich. Allerdings erhielt er Briefe und schrieb auch welche. Gelegentlich hat er sie mir anvertraut, damit ich sie zur Post bringe. Der einzige regelmäßige Briefwechsel war mit jemandem in einem Dorf namens Kimow. Es liegt irgendwo nördlich von hier, glaube ich. Er hat mal erwähnt, dass er da einen Freund hat. An den Namen des Freundes kann ich mich nicht mehr erinnern. Das ist die Wahrheit. Es ist alles, was ich weiß.«
    Vor Scham brachte sie die Worte kaum hervor. Äußerlichen Gefühlsbezeugungen war zwar niemals wirklich zu trauen, aber Leos Instinkt sagte ihm, dass sie gerade einen Verrat beging. Er riss den belastenden Bogen von seinem Notizblock und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn als Blutgeld an. In ihren Augen sah er den Abscheu. Er ließ es nicht an sich heran.
    Der Name des Bauerndorfes nördlich von Moskau war eine dürftige Spur. Wenn Brodsky wirklich als Spion arbeitete, war es wahrscheinlicher, dass er von den Leuten versteckt wurde, für die er tätig war. Seit langem war der MGB davon überzeugt, dass es ein Netz sicherer Häuser gab, die vom Ausland unterhalten wurden.
    Die Idee, dass ein aus dem Ausland unterstützter Verräter sich bei einem persönlichen Bekannten verbarg, einem Kolchosbauern, passte überhaupt nicht in das Bild eines professionellen Spions. Und trotzdem war Leo sich sicher, dass er diese Spur verfolgen sollte. Er wischte die Ungereimtheiten beiseite. Sein Auftrag war, diesen Mann zu fassen. Außerdem war es der einzige Hinweis, den er hatte. Seine Unentschlossenheit war ihn schon teuer genug zu stehen gekommen.
    Er eilte zum draußen geparkten Lastwagen und las sich noch einmal den Fallbericht durch, auf der Suche nach einem Hinweis, der auf das Dorf Kimow deutete. Wassili Iljitsch Nikitin, der zweite Befehlshabende, unterbrach ihn. Er war 35 Jahre alt, also etwa fünf Jahre älter als Leo, und einst einer der vielversprechendsten Offiziere im MGB gewesen. Rücksichtslos und ehrgeizig.
    Seine einzige Loyalität galt dem MGB. Insgeheim vermutete Leo, dass es sich dabei weniger um Patriotismus als vielmehr um Eigeninteresse handelte. Schon in seiner Anfangszeit als Ermittler hatte Wassili seine Hingabe dadurch unter Beweis gestellt, dass er seinen einzigen Bruder wegen antistalinistischer Bemerkungen denunziert hatte. Offenbar hatte der Bruder sich auf Stalins Kosten einen Scherz erlaubt. Er hatte an dem Tag seinen Geburtstag gefeiert und war betrunken gewesen. Wassili hatte einen Bericht verfasst, und den Bruder hatte man zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Verhaftung war so lange zu Wassilis Vorteil gewesen, bis der Bruder drei Jahre später ausgebrochen war und dabei mehrere Wachen und den Lagerarzt umgebracht hatte. Er war nie gefasst worden, und die Schmach hing Wassili an. Hätte er nicht fieberhaft die Suche nach dem Flüchtigen unterstützt, hätte es ihn möglicherweise ganz die Karriere gekostet. So aber hatte er weitermachen dürfen, allerdings erheblich gestutzt. Da er keine weiteren Brüder hatte, die er denunzieren konnte, war Leo sich sicher, dass sein Stell- vertreter auf der Suche nach anderen Möglichkeiten war, um sich wieder einzuschmeicheln.
    Gerade hatte Wassili die Durchsuchung der Tierarztpraxis beendet und war offenkundig mit sich zufrieden.
    Er reichte Leo einen

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